WIENER AKTIONISMUS

Presse

So wüst waren die Wiener Aktionisten

Donumenta-Auftakt: Arnulf und Franziska Meifert über direkte Kunst, direkte Sprache

Arnulf und Franziska Meifert

Von Helmut Hein, MZ

Das Habsburger Vielvölkerreich kollabierte – und hinterließ ein wüstes Gebräu aus Stimmungen und Mentalitäten, Wünschen, Ängsten und Ressentiments. Spätestens seit dem Jahr 1900 war Wien das Labor oder vielleicht doch eher: die Hexenküche der Moderne. Die Psychoanalyse und die Analytische Philosophie entstanden dort, die Zwölftonmusik und die Bauhausarchitektur; und der bösartige Antisemitismus, dessen giftigste Sumpfblüte Hitler war.
Der Zusammenbruch war die Voraussetzung des Neuanfangs. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anders. Die Wiener Gruppe der Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener samt den entfernteren Verwandten Jandl und Mayröcker revolutionierte seit den 50er Jahren die Literatur, der Wiener Aktionismus seit den 60er Jahren die Kunst und das Leben und ein wenig auch die Politik.
Arnulf und Franziska Meifert erklärten am Dienstag als Vorgeschmack auf den Donumenta-Schwerpunkt Österreich in ihrer Vortrags-Lesungs-Performance im Atelier am Wiedfang in Regensburg, woher das Wüst-Anarchische, das Explosive des Wiener Aktionismus kam. Aus den traumatischen Erfahrungen von Weltkrieg und Faschismus, die in Wien, verdrängt und nie verarbeitet, virulenter waren als in Westdeutschland. Und aus einem bigotten Katholizismus, wie Kunstforum-Chefin Ulrike Lorenz in ihrem Diskussionsbeitrag ergänzte, der in Österreich enger, „würgender“, bedrängender und verlogener war als anderswo.
Der Körper als Ort der Befreiung
Was aber war das Neue bei den vier Wiener Aktionisten Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler? Das entschieden Körperbezogene ihrer Aktionen, aber auch ihrer Sprache, die an diesem Abend im Atelier Am Wiedfang im Zentrum stand. Weil der Körper der Ort der Zurichtung des Menschen durch die autoritären Mächte Staat, Kirche, Armee, Familie ist, könnte man die Überzeugungen der Aktionisten zusammenfassen, kann auch nur der Körper der Ort der Befreiung sein. Das führte seit den 60er Jahren zu Skandalen en masse.
Die wirklichen Grenzüberschreitungen und Tabuverletzungen der ästhetischen Viererbande aus Wien gingen da Hand in Hand mit den überbietenden Phantasien und Projektionen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die blutigste Kastration sah, wo es nur um die Re-Inszenierung wirklicher, aber fast immer verdrängter und verleugneter Gewalt im Spielraum der Kunst ging.
Freilich: Nie zuvor waren Aktionen und Performances so hart und rücksichtslos, auch gegen sich selbst, wie bei den Wiener Aktionisten. Und heute kann man auch sehen, wohin die ästhetische Provokation führte: zum tödlichen Fenstersturz bei Schwarzkogler; zur kriminell entgleisenden sexuellen Befreiung in der zunehmend faschistoiden Großkommune des autoritären „Oberpavians“ Muehl, der sich an den Frauen und Kindern „seiner“ Gemeinschaft vergriff; und zum mythenseligen OrgienMysterienTheater eines Hermann Nitsch, der in der orgiastischen Vermischung, im permanenten Fluss roten Weins, aber auch von Blut, Sperma und anderen Körperflüssigkeiten die Erlösung suchte. Günter Brus, mit dem die Meiferts ein Vierteljahrhundert lang eng kooperierten, bekommt da nicht ohne Grund das Attest, als einziger von Abwegen weitgehend verschont geblieben zu sein.
Die Wiener Aktionisten sind Teil der Kunst-, ja der Gesellschaftsgeschichte geworden, längst reif für Archiv, Museum, Lexikon. Aber hält auch ihre Literatur dem kritischen Ohr stand? Kaum. Denn die „direkte Sprache“, von der die Meiferts sprechen, ist vor allem eine indirekte, im Barock und Expressionismus verwurzelt, überbordend bis zur Geschwätzigkeit und in ihren Versuchen, die nicht mehr verhinderten und verklemmten Sinne zu beschwören, vor allem adjektivselig bis zur unfreiwilligen Komik. Seine Sprache findet der Aktionismus, solange er nicht spricht, sondern Körper, Aktion bleibt; oder höchstens noch in den wüsten Pamphleten eines Otto Muehl gegen die „Wichtel“-Welt des ganz normalen Bürgers und seiner Institutionen. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern Logorrhoe.


MZ, 7.6.2006