WIENER AKTIONISMUS

Interview von Danièle Roussel mit Arnulf und Franziska Meifert
Wien, Juni 1995, in:

DER AKTIONISMUS UND DIE ÖSTERREICHER

(Hg. Danièle Roussel, Ritter Verlag, Klagenfurt 1995)

Was ist für Sie der Wiener Aktionismus?


AM: Die aufregendste, spannendste Kunstbemühung, der ich bisher begegnet bin, vor allem, wenn ich seine Weiterentwicklung im Werk von Günter Brus bedenke.

FM: Für mich bedeutet der Wiener Aktionismus den wichtigsten Versuch, den Körper zurückzuerobern. Der jahrhundertelange Prozeß der Zivilisation, der hinter uns liegt, war ein Prozeß der Verinnerlichung von Machtstrukturen, von äußerer Leibeigenschaft zu innerer. Dabei bildet der Körper den Schnittpunkt zwischen Individuum und Staat. Er ist das Schlachtfeld, auf dem alle Kämpfe der Disziplinierung ausgetragen werden, von der frühen Sauberkeitserziehung bis zum militärischen Drill.

AM: Nicht zufällig heißt eine Brus-Aktion Der Staatsbürger Günter Brus betrachtet seinen Körper. Indem er ihn betrachtet, indem er ihn untersucht, betreibt er einen skandalösen Vorgang, der dem Sezieren toter Körper bei Leonardo entspricht, ja, ihn fortsetzt und vollendet. Das Individuum in diesem Jahrhundert, nach zwei Weltkriegen, nach der Apokalypse, die schon stattgefunden hat, nämlich nach Auschwitz und Hiroshima, musste zwangsläufig von einer Generation, die nicht mehr von Wilhelminismus oder Faschismus versaut war, aus seiner Besetzung durch Staat und Gesellschaft herausgelöst werden. Andernfalls wäre auch das Experiment Menschheit oder zumindest das Experiment Zivilisation schon in Nachfolge der 50er Jahre und ihrer Kältestarre beendet worden. Der Wiener Aktionismus und weltweit viele verwandte künstlerische, semikünstlerische und andere Auflösungen gepanzerten Unbewusstseins sind relevanter Teil und Voraussetzung dessen, was man kurz und bündig „Entspannung“ zu nennen pflegt.

FM: Das Prinzip von Spannung/Entspannung, von Aufstauung und Entladung zieht sich durch das ganze Werk von Brus, durch Aktionismus, Schreiben, Zeichnen.
Wer ist für Sie Günter Brus?

AM: Ein Hirtenknabe, der in einer Steinwüste um sein Leben singt, ein selbstquälerischer Orpheus ...

FM: ... ein gewitzter Trickster, ein Prankster, ein listiger Coyote, der uns so lange an der Nase herumführt, bis wir unseren eigenen Geruch endlich wahrnehmen lernen.

AM: Jedenfalls das Gegenteil eines Gurus, Religionsstifters, Ästhetikprofessors. Ein Visionär, aber kein Verkünder. Niemand, der ein Programm vorgibt, aber jemand, der Widerspruch braucht, erwartet – und bekommt. Jemand, der das Selbstverständliche nicht eigens betont wissen will, jedenfalls nicht immer und überall ...

FM: Ein radikaler Aufklärer, gleichzeitig ein „Mythenprofi“, wie er sich selbst einmal ironisch bezeichnet hat.

AM: Eigentlich ist er ein Jäger, der sich ständig selbst jagt, der versucht, in den eigenen Niederungen Beute zu machen ...

FM: ... der sich angreift, wenn er Verantwortliche für die allgemeine Misere sucht.

AM: Einer, der mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt und mehr von Zweifeln lebt als von Gewissheiten. Sein ganzes Werk ist letztlich ein Arbeiten aus und mit der Krise. Das ist einer Epoche der Katastrophen, der geistigen, seelischen, künstlerischen, ökonomischen und ökologischen Konkursverfahren auch angemessen ...

FM: ... und einem Planeten im Zustand der Zerreißprobe war wirklich nur noch mit einer Kunst der Zerreißprobe zu begegnen. Die „reine“ Problematik von Form und Farbe hat ausgedient, ist per se Kitsch geworden ...

AM: ... allerdings ohne dessen liebenswerte Gefühligkeit. Solange der Mensch sich an seinem Schmutz vorbeizuschwindeln versucht, ist Auschwitz wieder möglich, egal in welcher Abwandlung. Malen ist auch Kotschmieren, das Kleinkind muß jetzt bald erwachsen werden!

FM: Brus hat, fulminant wie kein anderer, die prä- und perinatale Problematik ausagiert, gezeigt, beschrieben. Seit Rank und Graber 1924 ihre Forschungen vorlegten, hat es noch keinen anderen Künstler gegeben, der sich derart intensiv mit dem Trauma der Geburt befasst hat ...

AM: ... und damit mit dem Angelpunkt unseres Werdens. Wir sterben gleichsam ins Leben, aber wir starren alle unserem Tod entgegen, dabei liegt doch die subjektive Apokalypse schon hinter uns. Alle Formen von Gesellschaft, Staat, Sozialleben, Politik, Religion, Kunst usw. sind durchdrungen von meist unbewussten Prägungen aus der zeitlosen Existenz im Mutterbauch und der Austreibung, der Vertreibung aus der Paradieshölle in das Höllenparadies Leben mit seinen Abteilungen Kindheit, Schule, Militär, Arbeit, Familie, Alter.

FM: Die „zweite Geburt“ in Form der Initiation, die Loslösung von der Familie, das Hineingeborenwerden in die Gesellschaft der Erwachsenen, der Verantwortlichen, derer, die die Mythen durchschaut haben und sie daher selbst an Jüngere weitergeben dürfen, diese Pubertätsriten aller menschlichen Gemeinschaften unseres Planeten fehlen der westlichen Zivilisation, sind durch erste Zigarette oder ersten Rausch, durch Firmung oder Führerschein völlig unzureichend ersetzt. Alle vier Aktionisten haben mit dieser Problematik zu tun, Brus am meisten. Sein Aktionismus war eine einzige Selbstinitiation. Dabei hat er sich auch jene Trance-Methoden erworben, die das nachfolgende zeichnerische und literarische Oeuvre bestimmen.

Wie würden Sie die vier Aktionisten bewerten?

FM: Zu Brus haben wir uns ja schon ausführlich geäußert. Im Gegensatz zu den Kollegen hat er übrigens kaum mit „Modellen“ gearbeitet, sondern seine Aktionen immer am eigenen Leib ausagiert, auch wenn gelegentlich seine Frau Anna oder seine Tochter Diana im Babyalter integriert waren. Mühl ist unserer Meinung nach gescheitert, weil sein Versuch, einen Staat im Staat zu entwickeln, zu viele eigene Widersprüche produziert hat. Seine Strategie der Befreiung konnte nicht gelingen, weil sie zutiefst undemokratisch war, weil es doch wieder ein Führerprinzip gab, eine Oberklasse und ein Fußvolk ...

AM: ... und somit latente oder offen ausbrechende faschistoide Strukturen der Demütigung, Bestrafung und Ausgrenzung, zum Beispiel von Homosexualität. Letztlich ging es dann zunehmend um Geld, Macht und Welteroberungsphantasien. Der neue AAO-Typ sollte nach dem Zusammenbruch der Kleinfamilien-Zivilisation als Sieger, als neuer Übermensch hervortreten. Da Otto Mühl jedoch seine eigene Geschichte nie wirklich aufgearbeitet hat, blieb er selbst der patriarchale Oberwichtel in einer Gemeinschaft Teiltherapierter, die vollständig auf ihn geprägt, die von ihm abhängig waren. Eine nachgewachsene Generation hat dem ein Ende bereitet. Nicht zufällig fällt der Kollaps des Ostblocks mit dem der Kommune zusammen. Was seine Aktionen in den 60er Jahren angeht, waren sie Teil einer allgemeinenSexualbefreiung und behalten ihren Stellenwert im Rahmen gleichartiger Bemühungen.

FM: Was Hermann Nitsch betrifft, hat sein O.M.Theater nicht den Anspruch einzulösen vermocht, den Zuschauer generell in den Mitwirkenden zu verwandeln. Er ist auch mehr Regisseur aktionistischer Formen, nur selten Aktionist im eigentlichen Sinn, nämlich mit Arbeit am eigenen Körper.

AM: Der Schöpfer und Dramaturg wirklich beeindruckender Rituale, großmächtiger Szenerien, die sich auf dem Papier, in seinen Büchern, wie ein barockes Konzentrat aller Opferei aus den Tiefen der Menschheit ausnehmen, scheint nun selbst zum Opfer zu werden, allerdings nicht unverschuldet. Nach harten Jahren und Jahrzehnten der Verfolgung, der Belästigung und Behinderung wird er jetzt womöglich zum Organisator eines neuen Bayreuth in Prinzendorf an der Zaya. Wer soll auch dem Druck massiven Beifalls seitens der Kulturschickeria standhalten, die nur das Spektakel sucht, um im Gleichlauf gewohnter Amusements eine Abwechslung zu erfahren. Ruhm ist eben schwerer zu tragen als Nichtanerkennung.

FM: Dabei könnte sein O.M.Theater eine sehr wirksame Initiation in dem Problemkreis von Geburt und Tod sein. Doch anstatt die Mythen und Riten, die er versammelt, aufzulösen und als Projektionen zu entlarven, unterliegt er ihrer Faszination als Phänomene. Diese antiaufklärerische Haltung lässt auch die Annäherung an die katholische Kirche zu, die seine eklektizistischen Rituale mit Recht immer weniger als blasphemisch empfindet, sondern wittert, dass hier Möglichkeiten einer attraktiveren Liturgie für eine reformierte Kirche der Zukunft liegen.

AM: Noch ein paar Wendungen, noch ein paar Schritte aufeinander zu, noch eine größere Interpretation eines Pater Mennekes hier, noch ein paar Ausstellungen in Kirchen da und dort, und es fehlt nur noch ein neuer Papst im Herzen der Mafia, um das O.M. im Projekt-Titel zur Kurzform von Brimborium absinken zu lassen. Das wäre schade, das wäre schlimm. Allerdings halte ich nach dem Beitrag in der Holl-Anthologie inzwischen alles für möglich.

FM: Auch Rudolf Schwarzkogler hat versucht, eine neue Lebens- und Heilslehre in die Welt zu setzen, doch reduzierter, konzentrierter, asketischer. Das lässt sein Werk immer wieder Anker werfen in den Wellen der Esoterik. Eine Kneippkur für die Seele, und das ist gar nicht zynisch gemeint.

AM: Zwischen Heilfasten und Meditationskurs, zwischen Goetheaneum und Poona ging sein Entwurf eines neuen Lebenspanoramas verloren, nein, nicht verloren, wurde vielmehr eingeholt, integriert und sogar überholt. Was jedoch bleibt, als „Kunst“, sind seine großartigen Photos, Ikonen der Beschädigung, Verletzung , Isolierung.

Der Aktionismus ist für mich eine Kunst, die die eigene Schädigung und die der Gesellschaft sichtbar macht. Wären Sie einverstanden mit diesem Satz?

AM: Ja, unbedingt. Sichtbar macht, aber nicht automatisch, zwangsläufig, überwindet. Nur sehr sehr selten können Künstler das schon selbst leben, worauf ihre Ideen hinzielen. Das schmälert nicht ihr Verdienst, das hebt nicht die Notwendigkeit ihrer Arbeit auf. Zu scheitern ist oft angemessener als zu siegen. „Trial and error!“ laute die Parole!

FM: Der Wiener Aktionismus lieferte aber nicht nur Diagnosen des kranken Gesellschaftskörpers, er machte auch Therapievorschläge unterschiedlichster Art, Kunstfehler inbegriffen Er war ein Versuchslabor und ist damit auch zum Symbol geworden für die Selbsterforschung und Grenzüberschreitung jeweils neuer Generationen. Staatstheater und neuer Tanz, Performance, Film, Musik etc. haben Formen und Inhalte des Wiener Aktionismus übernommen, zitiert, usurpiert. In den jugendlichen Subkulturen ist man, meist ohne es zu wissen, überall auf den Spuren der Aktionisten.

AM: Es ist an der Zeit, die anthropologischen und psychologischen Verknüpfungen aufzusuchen und endlich über den Tellerrand „Kunst, heutige“ hinauszublicken, es gibt sie ja doch eigentlich nicht mehr. Sie ist zu einem unbedeutenden Fluchtweg in die Dekoration verkommen. Leben und Sinn sind ihr abhanden gekommen. Es ist an der Zeit, Bestände und Erbschaften zu überprüfen und entschiedene Positionen der jüngeren Vergangenheit tatsächlich aufzuarbeiten, anstatt dauernd nach der allerneuesten Entwicklung zum Beispiel von Malerei, und sei es auch elektronischer, weltweit Scouts auszuschicken ...