WIENER AKTIONISMUS

BITTERE PILLEN

Franziska Meifert
(publ. in: Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst; Wien 1997)

 

Kunst und Krankheit, Kunst aus Krankheit, Kunst als Krankheit?
Immer habe ich mich gegen sie gewehrt, die psychiatrische Begutachtung von Kunst und Künstlern - van Gogh als epileptoider Psychotiker, Kafka behaftet mit Ödipus- und Kastrationskomplex, verbunden mit analmasochistischen Tendenzen, und schon überhaupt Klopstock, der schizoide Psychopath! Oder der gehemmte Zwangsneurotiker Rilke und was der seltsamen Früchte mehr aus den wuchernden Plantagen der psychiatrischen Weißkittel von Lombroso bis Lange-Eichbaum und hinein in Regenbogenpresse, Wochenendbeilagen und Kulturmagazine. Wenn man Lieschen Müller oder Otto Normal unter dieselbe Lupe nähme, sähe das Ergebnis allerdings nicht anders aus. Nur unterzieht man die Genannten solchen Untersuchungen erst, wenn sie straffällig geworden sind, und dann sind sie eben Kriminelle und haben wiederum mit dem Bürger nichts gemein.
Dennoch hat Kunst natürlich mit Krankheit zu tun, ist Krankheit, Diagnose und Teil der Therapie gleichermaßen. Sie arbeitet nach dem homöopathischen Prinzip: das Element zu verstärken, das wehtut. Ich meine wirkliche Kunst, die uns angeht, ja, angreift und nicht nur gefällt, eine Kunst, die nicht nur als Tapetenersatz leere Wände zudeckt, sondern existentielle Fragen aufwirft : "Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?" Dieses Zitat von Pascal aus dem 17.Jahrhundert übernimmt Gauguin 1897, fast am Ende seines Lebens, als Titel für eines seiner Hauptwerke. Ursprünglich dem Dunstkreis Religion entstammend, hat sich Kunst, hat sich Kreativität als für unsere Gattung so entscheidend erwiesen, daß Kunst Religion quasi ersetzt hat: Am Sonntag vormittag findet man mehr Menschen in Museen als in Kirchen.
Wohin wir gehen, ist eine Frage von Hochrechnung und Science Fiction, von Glauben und Hoffen.
Wer wir sind, jeder für sich, kann man selbst kaum beantworten. Wer kennt sich schon so gut, daß er über sein Alltagsbewußtsein hinaus, über seine Masken hinweg, spontan seine ganz eigene Struktur definieren könnte, seine Dimensionen von innen aus erfassen könnte. Dieser Mangel verhilft allen Handelsklassen der Astrologie zu bester Nachfrage. Nur wenige haben durch grenzüberschreitende Erfahrungen, psychedelische Drogen und dergleichen, ihren innersten Kern kurz berührt - und dieser Kontakt war meist so verstörend, erschreckend, daß sie erleichtert waren, wenn er wieder aufhörte. Oder man wird zu Peer Gynt, der, beim Auseinandernehmen einer Zwiebel als den symbolischen Schalen seines Ichs, auf den Kern stoßen möchte und entdecken muß, daß es keinen gibt. Alle Schalen zusammen sind schon unser tränentreibendes Ich.
Woher wir kommen, ist zur einen Hälfte esoterische Spekulation, zur anderen physische Tatsache: aus dem Bauch einer Frau, und das führt schon in akute Schmerzzonen. Die Nabelschnur, die lebenslang bei keinem gekappt werden kann, ist die Frage, ob wir gewollt waren, ob wir geliebt wurden. Nur eine Minderheit kann darauf uneingeschränkt mit ja antworten, statistisch ausgedrückt rund 15 %. Was dies angeht, sind wir fast alle beschädigt, also krank.
Kunst, die uns trifft, ist der größte gemeinsame Nenner unserer Beschädigungen, fokussiert in denen des Künstlers. Der Künstler: ein "Patientenkollektiv", das seine gesammelten Krankheiten "erfahren" mit uns teilt. Die Kunst: ein autistisches Ventil für den Einzelnen und die Gemeinschaft. Manchmal, ein bißchen, erlöst sie uns von uns, von unserer Berührungsangst, unserer Stummheit, unseren Hemmungen, anderen zu zeigen, wer wir sind und wie wir sind. Aber nur, wenn die Partitur des Werks in uns zum Tönen gebracht wird - ein anstrengender, zeitraubender Prozeß. Sie wird dann zum Gerät, einer Art Stethoskop, durch das wir in uns hineinhören können, um deutlicher zu vernehmen, was uns sonst verborgen bliebe. Sie kann ein wirksames Mittel innerhalb einer Therapie sein - für sich allein ist sie meist keine. Auch nicht für den Künstler selbst, der nicht zuletzt von seinen Verdrängungen lebt, indem er sie in Form von Kunstprodukten verwertet. Deshalb wehrt er sich auch gewöhnlich gegen psychologische Interpretationen, will seine Botschaften objektiv verstanden wissen und auf keinen Fall in erster Linie als Spiegel seiner Biographie, über die sein Werk weitaus mehr aussagt, als er ahnt und als ihm lieb ist. Noch vor der Qualität philosophischer Behauptungen und gültiger Aussagen, ist ihm die kreative Arbeit günstigenfalls eine Art momentaner Spannungsabfuhr - kurzfristige Lösung emotionaler Dauerspannungen, die er sich bewahren will, aus denen heraus er arbeitet. "Die Krankheit ist mein Kapital", erwiderte Alfred Kubin vor Jahrzehnten auf die Frage nach Therapie. Heute wissen wir, daß die Befürchtung, mit der Neurose verschwinde die Kreativität, grundlos ist. Daß sie mehr dem Vorbewußten entspringt, das neurotische Unbewußte hingegen den Charakter einer Zwangsjacke trägt, was die Möglichkeit freier Assoziation eher blockiert als fördert. Ein Künstler, der gänzlich dem Unbewußten ausgeliefert ist, ist in schablonenhaften, sich wiederholenden Mustern gefangen, wie man besonders deutlich an der sogenannten "Bildnerei der Geisteskranken" ablesen kann. Selbsterkenntnis und Eigenanalyse verhindern Kreativität nicht, sondern ermöglichen erst deren Entwicklung und Entfaltung.
Der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gehörte nicht zu jenen, die Kunst auf den mehr oder minder gelungenen Ausdruck psychischer Störungen reduzierten. Trotzdem stellte er in seinem Werk "Die Träume der Dichter" (1912), das noch nach über 80 Jahren einen historisch bemerkenswerten Beitrag zum Thema "Kunst und Krankheit" darstellt, Vergleiche zwischen dem Wirken unbewußter Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern an, die sich auch heute nicht einfach vom Tisch wischen lassen. Der Verbrecher ist ihm "ein Talent, das im Leben stecken geblieben ist", während es dem Künstler und Dichter gelinge, seine asozialen Triebkräfte zu sozialen Potenzen umzugestalten. Auf den Punkt gebracht und durchaus überspitzt gesagt: "Shakespeare und Michelangelo, Dante und Poe, Nietzsche und Dostojewski, was waren sie anderes als in die Kunst gerettete Menschenfresser?" Mit dem Neurotiker verbinde den Künstler die Errichtung einer Phantasiewelt: "Der Dichter erfindet seine Szenen, der Neurotiker erlebt sie. Seine Neurose erweist sich als eine gelungene Dichtung, in der die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen." Dabei zeige der Dichter/Künstler alle Charaktereigenschaften des Neurotikers in verstärktem Maß: Minderwertigkeitsgefühle und Selbstüberschätzung, Empfindlichkeit und Grausamkeit, übertriebenen Neid gegenüber "Konkurrenten" und Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal, Schüchternheit und Trotz. "Aber er kann sich von ihnen durch seine Kunst befreien", fährt Stekel fort: "Er hat das feine Gewissen des Kulturmenschen, ein überempfindliches Gewissen, das auf die kleinsten Abweichungen mit Schuldbewußtsein reagiert. Er ist eitel und will ebenso wie der Neurotiker der Einzige sein. Er schafft scheinbar nur für sich. In Wahrheit für die Welt, um sich durchzusetzen. Seine Herrschsucht, sein Wille zur Macht erzwingt den Erfolg. (...) Der Wille zur Macht ist eigentlich nur der Wille zur Liebe. Herrschsucht ist das Verlangen, von allen geliebt zu werden. Grenzenlos geliebt zu werden." Gleichzeitig haben die Dichter und Künstler ein tiefes Schuldbewußtsein aufgrund ihrer eigenen Unfähigkeit zur Liebe: "Ihre Liebe bleibt ewig auf ihr Ich konzentriert. Sie kennen nur die Selbstliebe. Das ist ihre Schuld. Was sie mit unheimlicher Stärke fühlen, das ist nur der Haß. Was sie von aller Welt erwarten, ist das große Wunder, daß sie wirklich lieben können." Was sie am Anfang ihres Lebens schon schmerzlich vermißten, soll ihnen die Kunst geben, ersetzen, nachliefern.
Jenseits all ihrer sonstigen Bedeutung und Aussagekraft ist Kunst ein Mutterersatz. Sie schafft einen Bilderkosmos, einen Sprachleib um den Künstler herum, sie kompensiert sein einstiges Ausgesetztsein, seine fötale Machtlosigkeit gegenüber der Chemie eines Uterus, der nicht nur Ernährung, Rauchen und Trinken des übergeordneten Organismus, sondern auch mütterlichen Streß, Ablehnung, Angst, Unwohlsein, - der alle Negativitäten auf den abhängigen Fötus überträgt. Diese vollständige Ohnmacht wird später versuchsweise ausgeglichen durch künstlerische Allmachtsphantasien. Eine Omnipotenz, die sich ganz selbstbezogen und scheinbar autark eine eigene Welt schafft, gestaltet und nach Wunsch verändert. Dies bedeutet nicht notwendig Flucht in rosarote Einbettungen, in weiche Daunen aus wärmenden Gefühlen. Bedeutet nicht notwendig Operettenseligkeit und Verschmelzungssehnsucht, barbusige Zigeunerin und röhrenden Hirsch, Fantasien von heiler Welt und ewigem Liebesglück. Und auch nicht den Negativkitsch der Jugendkulturen aus Apokalypsenmode, Totenkopfromantik und S/M-Look. Das hieße, Realität abzuspalten, wie es der Durchschnittsmensch in einem bequem-schizophrenen Akt als Teil seiner Freizeitgestaltung ableistet. Ist im Wechselstrom der Gefühle zwischen Allmacht und Minderwertigkeit die künstlerische Einsicht stark genug, vermag sie sich sehr wohl dem realen Schmerz zu nähern, ihn zu thematisieren, ihn heraufzubeschwören. Das ist wahrscheinlich das tiefste Merkmal, womit wir "wirkliche" Kunst von purer Dekoration oder Unterhaltung unterscheiden können. Kunst muß zwangsläufig wehtun - dem Künstler und dem Betrachter. Sie muß die Kraft haben, durch den Verdrängungspanzer des Alltags zu stoßen, um die darunterliegenden Vernarbungen oder noch offenen Wunden zu berühren. Jede von ihnen ist eine Tür, die in innere Bezirke führt, die aufzusuchen sich lohnt. Bis dorthin kann uns, die Betrachter, die Kunst mitnehmen, sie kann diese Bereiche aufschließen, betreten müssen wir "Blaubarts achtes Zimmer" selbst. Und die "Leichen im Keller" sind keine fremden Körper, sondern abgetötete Teile unseres Ichs. Diese halb verwesten Gestalten zu schauen und zu wissen, das bin ich, ist nicht gerade das Leichteste. Sie wiederzuerkennen, sie wieder zu beleben, indem man sich mit ihnen identifiziert, ist Lebensaufgabe.
Eigentlich sind es gar keine Leichen, sondern Untote, Zombies. Obwohl um ihre Existenz gebracht, leben sie weiter, fressen uns von innen auf, saugen unsere Energie. Zombie-Babys, Zombie-Kinder, jugendliche, erwachsene Zombies ... immer wieder wir, an Lebenspunkten, wo erneut etwas in uns abgetötet wurde, weil es unerträglich war. Diese versperrten Anlagen im Untergrund des Bewußtseins sind erst einmal praktische Stauräume für alles, was im hellen Alltag stört, sie helfen uns, selbst jene negativen Erfahrungen wegzustecken, an denen ein Tier unweigerlich eingeht. Doch was uns hilft, nicht an gebrochenem Herzen zu sterben, vergiftet uns unaufhörlich...
Manchen Menschen gelingt es, die Türen über die Pubertät hinaus offenzuhalten, sich den Zugang zu ihrer Kindheit und damit zu ihren prägendsten Schmerzzonen zu bewahren. Und die Möglichkeit, sich darüber zu artikulieren. Ein kleines Kind protestiert und weint, wenn es verletzt wird, es schreit sich schier die Seele aus dem Leib. Irgendwann hört es dann auf, es verstummt. Es hat angefangen, Schmerz in sich zu verstecken, zu begraben, erwachsen zu werden. Nun schleppen wir das Kind, das wir glauben losgeworden zu sein, als Mumie mit uns herum. Wir agieren wie besinnungslose Kinder.
Kunst, die den Schmerz kennt, massiert unsere Seele, bis sich Verhärtungen lösen. Da ist es egal, ob es sich um Literatur oder Dichtung handelt, Theater oder Film, Kunst oder Architektur. Je mehr sie sich musikalischen Dimensionen nähern, umso intensiver wirken sie auf uns ein: "Trösterin Musica". Ob Mozart, Schubert oder Arvo Pärt, John Coltranes späte Ekstasen oder jüngste Industrial Music von Biota bis Organum - sie sickern durch die Ritzen und Risse unserer Panzerung ins strahlende Innere, nähren es, legen Energie nach. Das ist schon ein gutes Stück Linderung, Heilung. Das knetet uns durch und streichelt uns gleichzeitig. Das kann Depression in Traurigkeit wandeln, weil es dem, was uns deprimiert, Klang verleiht, uns wieder eine Stimme gibt. Traurigkeit tut gut, sie öffnet uns und verbraucht sich dabei.
Nach seiner Krebsoperation 1994 sagte der Dramatiker Heiner Müller in "Rendezvous mit dem Tod", einem Gespräch mit Alexander Kluge: "Bei bestimmten Eingriffen habe ich immer wieder versucht, mich an eigenen Texten festzuhalten gegen den Schmerz, das geht aber eigentlich nur mit ganz dichten Texten. Mit Prosa ist das ganz schwer, das geht nur mit Lyrik, es muß sehr geformt sein, dann hilft es gegen den Schmerz." Oft sind es nur einzelne Sätze aus Gedichten, die man erinnert und wie homöopathische Kügelchen schluckt. "Eine dicke Tigerschlange liegt müde um mein Herz geringelt" (Richard Dehmel), oder "Alle Straßen münden in schwarzer Verwesung" (Georg Trakl), oder "Die Seele ist verstopft. Im Stickicht tanzt man Ringelreihn" (Günter Brus). Kunst? Wohldosierte, hochgeschüttelte Essenzen aus Empfindung und Denken, Rhythmus und Klang - Mantras für Abendländer!
In dieser Sichtweise sind Künstler nicht nur Kranke, sondern gleichermaßen Medizinmänner und Heilerinnen. Der Zusammenhang Schamanismus und Kunst wird heute schon inflationär gebraucht, aber Kunst, die sich bei ihrer Aufführung nur eines Brimboriums bedient, einer abgestandenen Mischung aus alten Ritualen und nicht ganz neuen Einfällen, ist noch lange nicht schamanisch. Sie ist es meist dort, wo man es ihr gar nicht ansieht. Wo sie, ganz klassisch, unseren psychischen Leib abtastet nach Verletzungen, Besetzungen, wo sie verlorene Teile unserer Seele anruft und wieder zurückholt. Das geht aber auch nicht didaktisch, mit Erklärungen. Das gelingt nur auf verdeckte Weise, wie im griechischen Mythos, wo man sich totstellen mußte, um von Charon in die Unterwelt mitgenommen zu werden. Es gibt keinen geradlinigen Weg ins Unbewußte; das hieße, mit dem Kopf gegen verschlossene Türen zu rennen. Es geht nur unter Ausschaltung des Willens und narzißtischer Aufblähungen. Nur "in Demut", auf Mausgröße geschrumpft, fast zufällig, geraten wir in die verbotene Zone, durch Schlupflöcher, die sich unvermutet auftun. Wie Alice, die durch ein Kaninchenloch ins Bodenlose fällt, um in anderen Welten anzukommen. Und was wir dann finden, muß nicht unbedingt verständlich oder erklärbar sein, es will nur bemerkt, aufgenommen, beheimatet werden.
Kunst ist eine bittere Pille, für alle, Künstler und "Konsument". Der Künstler hat sein Leben lang daran zu kauen, wir haben sie zu schlucken.