WIENER AKTIONISMUS

Schmerzgrenze, laß nach!

Arnulf Meifert
Ein Nachtrag zum Wörterbuch des Unmenschen
(publ. in: protokolle – Zeitschrift für Literatur und Kunst, Wien 1997)

 

Das medizinische Wörterbuch von Zetkin und Schaldach erklärt Schmerz als "elementares Erlebnis, welches durch mechan., therm., chem., oder elektr. Reize von hoher Intensität ausgelöst werden kann, d.h. es gibt keinen adäquaten Reiz. S.wirksame Reize müssen so stark sein, daß das betroffene Gewebe mindestens einen vorübergehenden Schaden erleidet. (...) Psych. Faktoren haben erhebl. Einfluß auf die Intensität u. Aktivität des S.erlebens. (...) Der S. ist als ein Warnsignal aufzufassen u. löst in der Regel Abwehrreaktionen aus." Sucht man den vielbemühten Begriff "Schmerzgrenze" in Lexika, so geht man leer aus, selbst in medizinischen. Sehr wohl findet man die "Schmerzschwelle": "die für die Erregung der Schmerzrezeptoren erforderl. Mindeststärke eines mechan. oder therm. Reizes, bei chem. Reizen die Mindestkonzentration des schädigenden Agens. Die S. ist interindividuellen Schwankungen unterworfen." (1)
Die Schmerzschwelle ist also höchst subjektiv bestimmt, ebenso subjektiv und schwankend wie das Gefühl, gesund oder krank zu sein. Wie durchlässig die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist, illustrieren zwei Beispiele, zitiert nach "Krankheit als Weg" (2): "Krankheit meint den Zustand der Unvollkommenheit, der Verletzbarkeit, der Sterblichkeit. Bei genauem Hinsehen staunt man dann auch, was den 'Gesunden' alles fehlt. Bräutigam berichtet in seinem 'Lehrbuch für psychosomatische Medizin', daß bei 'Interviews von Arbeitern und Angestellten in einem Betrieb, die nicht krank waren, bei eingehender Exploration körperliche und seelische Beschwerden beinahe ebenso häufig auftauchten wie bei einer Krankenhauspopulation.'" Und Edgar Heim: "Ein Erwachsener macht in fünfundzwanzig Jahren seines Lebens durchschnittlich eine lebensbedrohliche, zwanzig ernsthafte und etwa zweihundert mittelschwere Erkrankungen durch." Also tatsächlich Leben als "Die Krankheit zum Tode"?
Ein kurzer Blick in den Zitatenschatz der Altvorderen, "Von A bis Z, Ewigkeitswerte"(3), beweist, daß Schmerz noch im letzten Jahrhundert zumindest philosophisch eher "toleriert" wurde, wie der Mediziner sich ausdrückt. Schelling hielt Schmerz für "etwas Allgemeines und Notwendiges in allem Leben. Schmerz kommt nur von dem Sein. Auf allem Leben ruht ein Schleier der Schwermut, eine tiefe unzerstörliche Melancholie." Für Börne ist er Indikator für Lebensintensität: "Am meisten lebt, wer am meisten leidet." Und nach Schopenhauer ist Leiden gar "der nächste und unmittelbarste Zweck unsres Lebens", ja "unsre wahre Bestimmung". "Der Wille ist die Saite, seine Durchkreuzung oder Hinderung deren Vibration, die Erkenntnis der Resonanzboden, der Schmerz ist der Ton." Nie hätten diese Denker eine Angelegenheit mit der Floskel abgewehrt, sie ginge an die "Schmerzgrenze"!
Trotz eines gigantischen medizinischen Apparates zur Vor- und Nachsorge sind wir weiterhin Krankheit und Schmerz ausgeliefert. Der Gesundheitszustand wird mißtrauisch, ja angstvoll beobachtet; der angestrengte Versuch "gesund zu leben" geht ebenso wie die Schulmedizin von einer funktionalen Verhütbarkeit von Krankheit aus. Krankheit ist zum absoluten Feindbild geworden, wir führen einen aufwendigen Krieg gegen den Schmerz. Doch, so paradox es klingt: "Die Krankheit macht den Menschen heilbar. Krankheit ist der Wendepunkt, an dem das Unheil sich in Heil wandeln läßt. Damit dies geschehen kann, muß der Mensch seinen Kampf einstellen und statt dessen hören und sehen lernen, was die Krankheit ihm zu sagen hat. Der Patient muß in sich hineinlauschen und in Kommunikation mit seinen Symptomen gehen, will er deren Botschaft erfahren. Er muß bereit sein, seine eigenen Ansichten und Vorstellungen über sich selbst rücksichtslos in Frage zu stellen und versuchen, bewußt zu integrieren, was das Symptom ihm korporal beizubringen versucht. Er muß also das Symptom überflüssig machen, indem er ins Bewußtsein hineinläßt, was ihm fehlt. Heilung ist immer mit einer Bewußtseinserweiterung und Reifung verbunden." (4) Man kann hier das Wort "Krankheit" auch durch "Schmerz" ersetzen.
"Schmerzgrenze" heißt eigentlich nicht, wie man beim ersten Hören vermutet, daß der Schmerz unerträglich würde, sondern daß er überhaupt erst anfängt. Dort beginnt etwas, weh zu tun. Hört man sich um, in welchem Umfeld der Begriff auftaucht, dann merkt man schnell, daß seine Hauptverwendung gar nicht im medizinischen Bereich liegt.
"Schmerzgrenze" ist ein Begriff aus unserem Jahrhundert, ja, aus den letzten fünfzig Jahren. An erster Stelle seiner Verwendung stehen Ökonomie und Politik: "Dieser Preis/ Vertrag/ Anspruch/ Kompromiß etc. geht an die Schmerzgrenze", sagt man - obwohl hier von eigentlichem Schmerz nicht die Rede sein kann.
Dann kommen die Bereiche Kunst und Kultur. Die enervierend laute Vibration aus dumpfem Dröhnen und hellem Zischen bei Punk, Metal, Techno, die aus den Zimmern Pubertierender pulsieren, belästigt elterliche Ohren. Die Augen der geplagten Erzeuger werden parallel dazu durch die ausgeflippte Aufmachung der Aufmüpfigen, von den violetten Haaren bis zum Zungenpiercing, gereizt. Das Durchbohren von allerlei Körperteilen schmerzt weniger den derart Verzierten als die schockierten Betrachter. Am Gesellschaftskörper verletzen Theater und Kunst die Haut der Übereinkünfte, wenn sie eine analytische Ästhetik und die Übertretung von Tabus bis zur nicht mehr genießbaren Provokation vorantreiben - bis zur Schmerzgrenze.
Hier wird also ein Begriff, der vorgibt, der Medizin zu entstammen, dem folglich meßbare Objektivität zugeschrieben wird, ideologisch eingesetzt. Als Begriff, der tatsächlich eine so überaus subjektive Kategorie umreißt, ist er eng mit dem moralischen Diskurs verknüpft. Weh tut, was sich gegen die eigene und somit die gesellschaftliche Moral richtet, die automatisch gleichgesetzt werden.
Auch hier bezieht sich das Erreichen der vorgeblichen Schmerzgrenze nicht auf den Agierenden, sondern auf jenen Kunstgenießer, der Anstoß nimmt. Ob für einen Künstler selbst seine Kunstprodukte oder der Schaffungsprozeß schmerzhaft sind oder waren, steht erst gar nicht zur Debatte. Nur welche Zumutung dies für den armen Rezipienten bedeutet, der als Steuerzahler auch noch genötigt wird, derlei im Kunstbetrieb zu finanzieren, ist von Belang in Tagesgespräch und Presse. Auch die Frau am Würstlstand maßt sich ein Urteil an über die Inszenierungen am Burgtheater, obwohl sie noch nie in einer Vorstellung war. In ihrem Namen blasen die Herolde sauberer, anständiger, sittlicher, konformer Kunst zur Attacke gegen "Asphaltliteraten", "Schmierfinken", "Pornoregisseure", "Nestbeschmutzer", "Gesellschaftsfeinde", - alle miteinander ein rechter Bürgerschreck. Auf der Linken dient die Definition "Schmerzgrenze", um eine Verletzung der political correctness anzumahnen.
Die enge Verknüpfung zwischen dem medizinischen, physiologischen Diskurs, zwischen dem Angstfeld Krankheit also, und dem kulturellen, moralischen Diskurs trägt, wie Foucault und andere erforschten, bereits einen langen Bart. Einen Bart, dessen Spitzen bis zu den Anfängen der Industrialisierung einerseits und zur Entstehung des modernen Staatswesens andererseits hinabreichen: Unmoral ist Krankheit und macht krank, lautete das Motto - eine pervertierte Fassung des antiken Spruchs vom gesunden Geist, der in einem gesunden Körper wohnt. Und Unmoral ist ansteckend. Ihrer Ausbreitung ist schon in den Anfängen so zu wehren wie der von Seuchen. In der Epoche der Aufklärung beginnt man, christliche Moral zu säkularisieren und so zu internalisieren, nämlich in Begriffe von Hygiene und Volksgesundheit zu überführen. Masturbation führe zu Rückenmarkserweichung, Zeugungsunfähigkeit, Verkrüppelung, Verblödung und endgültigem Verfall - schließlich Degeneration des ganzen Volkes, Dekadenz der Kultur, zuletzt: Der Untergang des Abendlandes. Je mehr sich der Körper des Bürgers mit dem Staatskörper deckt, gar identisch wird, desto effektiver wird das moralische System, das auf Ausgrenzung beruht. "Volkskörper" nannte sich der Bastard aus Einzelnem und Staat im Dritten Reich. Der Volkskörper sei von gefährlichen Parasiten und Schädlingen bedroht, sein reines Blut werde durch die Vermischung mit Fremden und Nicht-Ariern, rassisch Minderwertigen verschmutzt, seine Kraft nicht nur bedroht von der "Lustseuche", der Syphilis, sondern auch sein Willen geschwächt durch Bolschewisten, Geisteskranke und Asoziale - nämlich Intellektuelle und somit vielfach Juden, Künstler und somit vielfach Juden, und generell Abweichler, Aussteiger, Verweigerer jeglicher Art. Zur "Gesundung" wurde ein eigener hygienischer Kanon verschrieben. Wie die Körper der Staatsbürger ihre Zersetzungsprodukte an abgeschiedenen Orten entsorgen, so zwang der Volkskörper seinen "Abfall", nämlich die "Zersetzer" an abgeschiedene Orte, um sich ihrer zu entledigen: durch rationell kalkulierten Massenmord per Zyklon B, einem Schädlingsbekämpfungsmittel. Wieslaw Kielar, ehemaliger Häftling, schildert in seinen gleichnamigen Erinnerungen, daß Auschwitz "Anus Mundi" genannt wurde - After der Welt.
Natürlich bezieht sich heute kaum mehr jemand offen auf den "Volkskörper", wenn er von der "Schmerzgrenze" spricht. Trotzdem setzt die "Schmerzgrenze" das "gesunde Volksempfinden" voraus, wie sie überhaupt der Begriffswelt der "Entartung" entstammt, ja, deren quasi harmloseste Metamorphose und Auferstehung darstellt. Derjenige, der sich an seine "Schmerzgrenze" geführt oder sogar an ihr verletzt fühlt, spricht eben nicht nur für sich. Vielmehr fühlt er sich als Verkünder einer Mehrheit, die von einer Minderheit gestört wird. Er kommt meist gar nicht auf die Idee, daß dieser Vorgang vielleicht Resultat unzureichender Bildung, intellektueller Minderleistung oder eigener psychischer Probleme sein könnte. Die "Schmerzgrenze" ist dann erreicht, wenn sein abgesichertes Weltbild ins Wanken gerät, wenn die bürgerliche Trias Identität-Normalität-Ordnung tangiert wird.
Noch immer, nach einem halben Jahrhundert Demokratie in Deutschland und Österreich, vermißt man im heißen Kern Europas eine Erziehung zur Freiheit, die diesen Namen verdiente. Noch immer regiert eine Art christlicher Fundamentalismus unser Denken. Das Karlsruher Urteil, das sich auf die Trennung von Staat und Kirche in der BRD beruft und den deutschen Bundesländern, allen voran Bayern, verbietet, das Aufhängen von Kreuzen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen gesetzlich anzu-ordnen, ging einigen Zehntausenden und ihren populistischen Politikern an die "Schmerzgrenze". Dabei wurde ja nicht das Kreuz als solches verboten, sondern nur die staatliche Vorschrift zurückge-stutzt, eines aufhängen zu müssen. In Österreich darf Achternbuschs Christus-Film "Das Gespenst" aus dem Jahr 1982 bis heute nicht gezeigt werden, nicht einmal im Rahmen eines Festivals. Ein Werk, über das sogar der katholische "filmdienst" urteilt: "Unter der blasphemischen Oberfläche des Films (...) verbergen sich tiefe Betroffenheit und profunde Skepsis angesichts versteinerter politisch-kultureller Verhältnisse (...)" (5). Auch in der Bundesrepublik machten sich offizielle Stellen zum Büttel des "gesunden Volksempfindens", nämlich die deutschen Bischöfe, die Staatsanwaltschaft und das Bundesinnenministerium, allerdings mit begrenztem Erfolg. Hinter der Verletzung religiöser Gefühle der vorgeblichen Mehrheit verbirgt sich neben Intoleranz ein gerüttelt Maß Bequemlichkeit, die Angst, auf eine Minderheit auch noch Rücksicht nehmen zu müssen. Daß Demokratie sich geradezu durch Schutz und Freiheit von Minderheiten definiert, durch das Recht des "Andersdenkenden", hat man nach 50 Jahren offenbar noch immer nicht begriffen oder will es nicht zugestehen. "Demokratie" als Worthülse.
Die "Schmerzgrenze" meint recht eigentlich den Moment, in dem der Körperpanzer, wie Wilhelm Reich die Verkrustungen des prä- und postfaschistischen Bürgers definiert hat, verletzt wird. Auch der Körperpanzer einer Kultur, ihre starre Hautgrenze, die nichts hineinläßt und nichts hinaus, die jede Durchlässigkeit als Angriff auf ihre Integrität empfindet. "Multikulti" ist so eine Zumutung, die mit dem Schlagwort "Das Boot ist voll!" zurückgewiesen wird. Doch eine multikulturelle Gesellschaft läßt sich gar nicht mehr abwehren, sie ist längst da und Teil des gesellschaftlichen Fundaments, z.B. im Fall von Krankenversicherung und Rente. Nachdem das christliche Abendland den Rest der Welt unterworfen, missioniert und ausgebeutet hat, nachdem Kirche, Industrie und "Entwicklungshilfe" die Südhalbkkugel überschwemmten, rollt die Welle nun zurück. Den Kolonialwaren Kaffee und Baumwolle, Banane und Ananas folgten die Negerplastiken des "Primitivismus", folgten der Jazz und seine Ableger, und in Verbindung damit unzählige Tanz- und Bewegungsformen, änderten sich Eß- und Kleidermoden, wurden fernöstliche Heilpraktiken und spirituelle Techniken importiert, bewußtseinserweiternde Drogen entdeckt und wiederentdeckt, werden "primitive", heidnische Wurzeln unserer eigenen Kultur reaktiviert. "Back to the roots" meint eine Besinnung auch auf jene Wurzeln, aus denen sich "Radikalität" herleitet./
Langsam löst sich der europäische Psychozentrismus auf und läßt andere Ethnien der Seele zu. Der abendländische Körperfestung wird zunehmend unterspült von Körperbildern der Fragmentierung und Zerstückelung, von Enthemmung und Ekstase, von Lust und Tod, von Auflösung und neuer Zusammensetzung. Was in den Initiationsriten der Naturvölker, in der schamanischen Einweihung, im Tantrismus selbstverständlich ist, nämlich das Spiel mit der Verletzlichkeit und Sterblichkeit der eigenen Hülle, dient hierzulande noch immer zum Skandal, verletzt die "Schmerzgrenze", nämlich den Schutzwall gegenüber verschlungenem Gedärm, pulsierenden Organen, dieser ganzen "Unterwelt" aus Blut, Schleim und Ausscheidung. Im Grunde ist noch nicht einmal die Sezierung des Körpers durch Leonardo und ihre Folgen in der Kunst angemessen akzeptiert. So ist es kein Zufall, daß die künstlerische Avantgarde sich zunehmend mit der Zerstörung des abendländischen Körperpanzers befaßt - unter entsprechendem Schmerzgestöhne des geforderten Publikums.
Was die Literatur angeht, so sonnt sich der mehrheitliche Leser am liebsten in einer Romanwelt, die, wenn schon nicht heil, so wenigstens halbwegs sauber bleibt und die Körpergrenzen respektiert. "Das Literarische Quartett" verteidigt seine Geschmacksgrenzen durch das Ausspielen alter Trümpfe wie Fontane und Mann, Doderer und Schnitzler. Literatur, die sich mit Körperprozessen beschäftigt, wird allerorten als ungustiös und schockierend abqualifiziert. Das Jurymitglied einer englischen literarischen Vereinigung, der "Best of Young British Novelists Promotion", beklagt sich darüber, daß bei den vielen Einreichungen ein Thema immer wieder auftaucht: "Wir schienen uns in einer Welt zu bewegen, in der der menschliche Körper entweder Objekt der Begierde oder der Vergewaltigung ist, in der die Handlung größtenteils aus Penetration besteht, entweder durch den Penis oder ein Messer oder eine Nadel, eine Welt, in der alles von Blut oder anderen Körpersäften trieft."(6) Tom Shone, der sich dieser Kritik anschließt, attestiert der betroffenen Literatur, selbst krank zu sein: "Für diese Schriftsteller ist Geschmacklosigkeit immer mit Wahrheit gleichzusetzen, Unappetitlichkeit immer mit Realismus. Solange diese zentrale Annahme aufrecht bleibt, kann man nicht umhin, sich zu fragen, ob die kranken Körper, die in der zeitgenössischen Literatur beschrieben werden, nicht eine ziemlich beunruhigende Selbstdiagnose über den Gesundheitszustand eben dieser Literatur sind."(7)
Im Film sind die abartigen ebenfalls jene Genres, die am meisten "unter die Haut" gehen, nämlich Pornographie und Horror. "Zum Schutze der Jugend" werden in der BRD die Grundrechte durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften empfindlich eingeschränkt, obwohl Zensur von der Verfassung her nicht rechtens ist. Munter wird im Katalog der BPS indiziert: von Crump(sic!) -Comix bis zu den "Urlaubsgrüßen aus dem Unterhöschen", von Claurens harmloser Biedermeier-Erotik "Mimili" bis zu den Kaugummibildchen "Mülleimerkinder". Vor allem aber Filme und Videos. Es herrscht völlige Rechtsunsicherheit, der eigene Grad an Unbildung und Unwissenheit bestimmt den juristischen Handlungsbedarf. Liegt im Zollamt Post die "Schmerzgrenze" ausgesprochen unter Niveau, so erweist sie sich bei liberalen Staatsanwälten in Großstädten etwas höher. Was der eine Beurteiler noch als blödelnden Schmuddelfilm toleriert, ist für den anderen eine "sittliche Gefährdung". Überhaupt gilt Pornographie pauschal als "Schweinkram" und viel erotischer sei angeblich alles, was man nicht sieht - aufs wirkliche Leben übertragen, hieße das noch immer: Sex unter der Bettdecke und bei ausgeknipstem Licht. Für fundamentalistische Feministinnen ist heterosexueller Geschlechtsverkehr schlicht Penetration und als solche gar eine Form von Körperverletzung.
Was den Horrorfilm angeht, erhitzen sich die Gemüter immer wieder darüber, wo die "Schmerzgrenze" liegt. So befand die BPS in wiederholten Verfahren die beiden Teile von Sam Raimis "Evil Dead" als unerträglich gewalttätig und "menschenverachtend". Erst als nach jahrelanger Juristerei die Personen der Handlung als "Zombies" und ergo nicht mehr "Menschen" definiert waren, wurde die Gewalt gegen sie weitgehend der Schere entzogen, lediglich wenige Schnitte mußten auch dann noch ausgeführt werden. Da der Filmbetrachter sich über das Spiegelbild Film mit dem fiktiven Körper identifiziert, zieht er es in der Regel vor, Täter zu sein, selbst zu schießen, zu schlagen und zu treten wie in jenen sanktionierten Actionfilmen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit unzensiert über den Bildschirm flimmern. Im Horrorfilm hingegen wird dem Zuschauer die Identifikation mit dem Opfer vorgegeben, dessen Leib von Kettensägen, Äxten oder den scharfen Zähnen kannibalistischer Zombies bedroht wird. Da muß gar kein Blut fließen, allein die Perspektive genügt, um diese Fiktion als gewalttätig, verrohend und blutrünstig zu brandmarken, kurzum: als "sozial desorientierend". Einer der berüchtigsten Streifen, immer wieder als besonders abschreckendes Beispiel zitiert, der Kultfilm "Texas Chainsaw Massacre", erzeugt seine vorgebliche Brutalität fast ausschließlich mit den rein filmischen Mitteln von Ton und Montage.
Zuletzt die bildende Kunst, die ja im großen und ganzen, soweit sie "repräsentatives Tafelbild" bleibt, keinen Anstoß erregt. Gewisse provozierende Ausnahmen wie z.B. H.R.Giger bleiben von vornherein ausgegrenzt und kommen in "seriösen" Zusammenhängen sogenannter Hochkunst kaum vor. Doch als im Wien der frühen 60er Jahre die Aktionisten die Leinwand verließen und die Körperkunst erfanden, war die "Schmerzgrenze" besonders deutlich überschritten. Für Österreicher und Deutsche sind diese Körperblasphemien nach wie vor ein rotes Tuch, ebenso für Engländer und Amerikaner. Dagegen haben Franzosen und Holländer, Italiener und Spanier, trotz katholisch geprägter Kultur, damit weniger Probleme. Die "Schmerzgrenze" scheint also nicht nur interindividuellen, sondern auch interkulturellen Schwankungen unterworfen zu sein. An der Rezeptionsgeschichte des "Wiener Aktionismus" läßt sich klar ablesen, wie weh die einzelnen Künstler der Gesellschaft taten: Schwarzkogler und Muehl konnten am ehesten "integriert" werden, ersterer wegen seiner stark ästhetisierten Ikonographie und seinem von östlichen Philosophien beeinflußten "Lebenspanorama", das mittlerweile in der Esoterikwelle aufgeht. Muehl im Zuge der allgemeinen Sexualbefreiung und der Entwicklung alternativer Formen des Zusammenlebens (seine neuerliche gesellschaftliche Ausgrenzung ist selbstverschuldet). Dann Nitsch, der mit seinem Orgien Mysterien Theater dem barocken Lebensgefühl nahesteht und vom anfänglichen Blasphemieverdacht langsam zum Sympathieträger aufrückt - Kirche und Wirtshaus, heilige Kommunion und kleines Gulasch lagen in Österreich und Süddeutschland schon immer eng beieinander.
Am wenigsten akzeptiert und rezipiert ist Brus. Offensichtlich verletzte er den gesellschaftlichen Leib am stärksten: Mit seinen "Körperanalysen" (ein Begriff, den er für eine seiner Aktionen als Titel erfand, und der mittlerweile schon in den allgemeinen Sprachgebrauch überzugehen scheint) verstieß er permanent gegen die "Schmerzgrenze" des Betrachters: ob er sich bemalte, sich schnitt, sich mit seiner Notdurft befaßte, ob er nackt auftrat oder bekleidet mit den weiblichen Attributen Strumpfgürtel und BH - was immer er am eigenen Körper verrichtete und ganz egal, vor welchem gedanklichen Hintergrund, er tat dem rest-braunen "Volkskörper" damit etwas an. Wie ließe sich sonst erklären, daß ein Mensch, der keine terroristischen Aktivitäten propagierte oder gar ausführte, in der Presse zum "Staatsfeind Nr.1" erklärt wurde? Daß er immer wieder als besonders abschreckendes Künstlerbeispiel für Wahlkampfargumente und ähnliche Lügenkampagnen herhalten muß, seinetwegen Parlamentsanfragen gestartet werden? Obwohl er in zweieinhalb Jahrzehnten nach dem Aktionismus ein umfangreiches zeichnerisches und literarisches Werk vorlegte, bleibt er das "Uniferkel", ignoriert man die späteren Arbeiten genauso, wie man sich weigert, die frühe Arbeit aufgeschlossen-analytisch zu betrachten - die Qualität seines Angriffs auf die "Schmerzgrenze" verzeiht man ihm offenbar nie. Sein Aktionismus ist die Narbe, die immer juckt, vor allem bei Klima-Umschwüngen in der Politik. Den Wert "verrrückter" Künstler, den Wert solcher "Schmerzenskinder" für die Gesellschaft hat man noch nicht begriffen. Sie sind Prüfinstanz für abgestorbene, verrottete Werte, sie sind der reinigende Sturmwind, der das morsche Astwerk ausfegt.
Ist Kunst keine Grenzüberschreitung - egal ob nach außen oder innen! -, bleibt sie bloße Dekoration. Wenn es 1937 im Ausstellungsführer "Entartete Kunst" auf der letzten Seite, zu Bildern von Max Ernst u.a., heißt: "Dummheit oder Frechheit - oder beides - auf die Spitze getrieben!", so kontert Brus in seiner Imprimatur zu "Kunst, Recht und Freiheit": "Kunst ist Frechheit mit Recht auf freieste Reichweite." Dem pikierten Betrachter sei zum Trost gesagt: Man wächst mit seinen Schmerzen. Man kann nur steigen, wodurch man fallen kann. Und Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden! Andernfalls Länder Gefängnisse wären, und manche sind es ja...
Nach Auschwitz kann es in der Welt von Kunst und Kultur gar keine "Schmerzgrenze" mehr geben, ist in der virtuellen Realität überhaupt nichts mehr "unzumutbar". Die Apokalypse hat bereits stattgefunden. Nach ihr gibt es kein einziges Tabu einer bürgerlichen Gesellschaft mehr. Wie bar jeder Phantasie und jeglichen Mitleids muß man sein, um vor diesem grenzenlos schmerzenden historischen Hintergrund an kulturellen Erscheinungen, welchen "Härtegrades" auch immer, Anstoß zu nehmen, schockiert zu sein, nach Verboten zu rufen? Der weinerliche Mitteleuropäer will die öffentliche Anständigkeit, damit er sich privat über Abweichungen von dieser aufregen kann. Er möchte - genußfundamen-tal - zurück zur Seifenoper und zum Musikantenstadel, zur Muttchenkultur der widerwärtigen 50er Jahre. Er weigert sich standhaft, die mindesten Schlußfolgerungen aus Geschichte und Kunst zu ziehen. Er will nicht wahrhaben, daß die fiktive Körperverletzung eine wirksame Schutzimpfung gegen die tatsächliche Zerstörung sein könnte. Er verweist auf die "Schmerzgrenze", obgleich er unfähig ist, wirklichen Schmerz zu empfinden, ja, überhaupt zu fühlen. Er fordert von sich und den Mitmenschen soziale Anpassung um jeden Preis, was nichts anderes bedeutet als die krankhafte Verdrängung der beiden existentiellen Lebensantriebe Aggression und Sexualität.
Und so landen wir notgedrungen wieder bei der Medizin: "All diese verdrängten Aggressionen unserer lieben und friedlichen, sozial so gut angepaßten Mitbürger treten als 'Krankheiten' wieder ans Tageslicht und setzen letztlich der sozialen Gemeinschaft in dieser pervertierten Form genauso zu wie in ihrer Urform. Die Kliniken sind daher die modernen Schlachtfelder unserer Gesellschaft. Hier kämpfen die verdrängten Aggressionen gegen ihre Inhaber erbarmungslose Schlachten." (8)
Schmerzgrenze, laß nach!

 

1) Zetkin/Schaldach: Wörterbuch - Medizin, Zahnheilkunde, Grenzgebiete, dtv/Thieme Verlag, Stuttgart/New York 1985
2) Dahlke/Dethlefsen: Krankheit als Weg, Raubdruck o.Angaben, S.82
3) Dr.Rob.Zilchert: Von A bis Z Ewigkeitswerte; Verlag von Carl Ziegenhirt, Leipzig 1926
4) Dahlke/ Dethlefsen, S.85 f
5) zitiert nach: Lexikon des Internationalen Films, Rowohlt, Hamburg 1987, S.1307
6) A.S.Byatt, zit. von Tom Shone in der Zschr. "Gegenwart" Nr.26
7) ebd.
8) Dahlke/ Dethlefsen, S.177