WIENER AKTIONISMUS

Meifert "Ich schwimme in göttlicher Gnade"

Arnulf und Franziska
Ottos glorreiche Wiederauferstehung mit Hilfe
der 6 verbreitetsten Mühl-Legenden
(publ. in: testcard # 8/2000)

 

Als Otto Mühl im Dezember 1997 dank einer Weihnachtsamnestie ein halbes Jahr vor Ablauf seiner siebenjährigen Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wurde, brach ein wahres Mühl-Fieber in Wien aus. Seine Kunstmanagerin Danièle Roussel hatte den Band "Otto Mühl. Aus dem Gefängnis 1991-1997" mit allerlei Briefen und Gesprächen herausgegeben und damit rechtzeitig die Neugier geweckt. Wiener Journalisten reisten ihm an die Algarve nach, wo er sein Alter unter den Möglichkeiten einer neuen Mini-Kommune verbringen will. Neun Erwachsene und zwölf Kinder aus der ehemaligen Elite, ein "ethnogenetisches Biotop" nach seinen Worten, bereiteten ihm dort ein neues Nest. Unterdessen wurde für die Wiener Szene ein Mühl-Revival inszeniert. Selten ist ein Strafentlassener von der Gesellschaft mit so offenen Armen wiederaufgenommen worden...
Im MAK, Museum für angewandte Kunst, stellte Peter Noever eilends die Produktion an Gefängnisbildern aus: "Otto Mühl 7". Der Katalog wurde gleich zweisprachig abgefaßt, um dem erhofften Interesse der internationalen Kunstwelt Genüge zu tun. Das Museum moderner Kunst wollte auch nicht zurückstehen und wartete mit einer Mühl-Mappe "Gefängnisgraphik" auf. Und natürlich nützte der Kunsthandel den Publicity-Schub, um erneut die Masse von Mühl-Arbeiten aus dem Gemeinschaftseigentum der ehemaligen Kommune im Markt unterzubringen, die schon seit Jahren für die Verwertung bereitstehen. Daß freilich auch ein vermeintlich klarer Kopf wie Claus Peymann in diese "Mühle" geriet, ist schon bemerkenswerter. Vielleicht rächte er sich auch nur für den jahrelangen Ärger als Intendant, als "Piefke" unter Wienern ewig angefeindet, indem er den frisch entlassenen, skandalversprechenden Ex-Aktionisten ins Burgtheater holte, also ins Allerheiligste der Metropole, damit dieser sich seinerseits mit einem "Dramolett" räche, doch der erhoffte Skandal erschöpfte sich in der Schwäche des Stücks. Es handelte von "Muchl" (nämlich Mühl) und seinen Richtern und Staatsanwälten, die (s)einen Antrag auf Straferlaß ablehnten. Gelegenheit, die Richter im Rundumschlag als perverse Psychopathen darzustellen und einen Schwall ordinärsten Wiener Schmähs in der "Burg" loszulassen, die ja schon ganz andere, allerdings literarisch relevante Provokationen von Bernhard bis Jelinek ausgehalten hat. Indem er im Stück Muchl, d.h. sich selbst zum Sündenbock macht, auf den die Richter ihre sexuellen Perversionen projizieren, wälzt er im Handstreich seine eigenen Phantasien auf die anderen ab, verwandelt sich selbst zum Unschuldslamm. Peymann jedoch sieht in Mühls Schriften "ein Dokument, vergleichbar mit Egon Schieles Läuterungsprozeß", in mehrfacher Hinsicht ein schräger Vergleich, nicht zuletzt, weil sich der Verdacht auf Kinderschändung bei Schiele als unbegründet erwies.
Reihenweise gingen und gehen die Leute Mühls Selbststilisierung als neuer Schiele auf den Leim, als reinkarnierter Wilhelm Reich der Kunst, als wiedererstandener de Sade, kurzum: als Märtyerer der Kunst der 90er. Diese glaubt, das Dauerthema Körper neu entdeckt zu haben und meint, sich für einen Künstler interessieren und engagieren zu müssen, der sich im stetigen Konkurrenzkampf der Wiener Kunstheroen selbst zur Ikone stilisiert. Die Haftzeit verkauft er als Turbo-Erleuchtung, und auf die Frage Peter Noevers "Empfindest Du Dich als Heiliger?", antwortet Mühl mit jenem Ernst, den er je nach Zuhörerreaktion flugs als Ironie umzudeklarieren wüßte: "Noch nicht. Aber ich bin durch mein sechseinhalbjähriges Martyrium in den Kerkern der Republik schon in bedenkliche Nähe eines Heiligen gerückt. Jetzt weiß ich genau, was ich will. (...) Meine Vorstellungskraft hat göttliche Dimensionen bekommen, ich sehe sozusagen in den Himmel, ich schwimme in göttlicher Gnade."
Wer mit diesem Schmock jetzt noch sympathisiert, verhält sich wie jemand, der nach der Auflösung der Deutschen Diktatorischen Republik noch sentimentales Mitgefühl mit Erich Honecker aufbrachte oder gar erstmals entdeckte. Wie dieser war auch Mühl ein alternder Feudalherr, dem die Untertanen einerseits davonliefen, den sie andererseits nicht mehr duldeten. Bei beiden war es eine neue, junge Generation, die den Umsturz herbeiführte. Sie akzeptierten als Führerfigur nicht länger einen gewissenlosen Potentaten, der Menschen wie Material behandelte und das auch noch offen deklarierte. Das alles lag sogar 1977 schon mehr oder minder offen zutage - wer Bescheid wissen wollte, brauchte nur den "Spiegel" zu lesen. Doch während die oft genug blauäugige und daher betriebsblinde Sympathie mit dem "real existierenden Sozialismus" nach dem Exitus der DDR bei der Linken rasch dahinschwand, hat Mühl jetzt erst recht bei allen staatskritischen, liberalen, experimentierfreudigen Leuten, bei ehemaligen 68ern, Leuten, die in Kommunen lebten oder noch leben, solchen, die die Sehnsucht nach einem anderen Leben noch nicht aufgegeben haben, einen Bonus - und dies ganz zu Unrecht! Stellvertretend für diese unberechtigte Verehrung mag der französische Philosophiegeschichtler Michel Onfray zitiert werden, der zu den Gefängnisbriefen ein pathetisches Vorwort schrieb, das vor Legenden und Unrichtigkeiten nur so strotzt. Hier ist jemand voll aufgelaufen! Mühl in eine Reihe mit de Sade und Oscar Wilde zu stellen, bedürfte schon treffenderer Begründungen als der banalen Parallelität der "Künstler im Gefängnis": "Denn es darf nicht vergessen werden, daß Otto Mühl von 1991 bis 1997 mehr als zweitausendfünfhundert Tage in österreichischen Gefängnissen verbrachte, weil er sexuelle Beziehungen mit jungen Mädchen der Kommune unterhielt." Daß diese Mädchen minderjährig waren, daß sie dazu gezwungen wurden, wieweit körperliche Gewalt angewandt wurde, ist ihm kein Thema, denn es geschah ja, so Onfray, "im Rahmen einer künstlerischen, ethischen und politischen Gemeinschaft, in der alles geteilt wurde, auch die Sexualität." Wenn Mühl zu Recht verurteilt wurde, und daran kann kein Zweifel bestehen, dann ist solch ein fiktiver Freispruch geistige Mittäterschaft, Monsieur Onfray! Haben vielleicht in einer alternativen Gemeinschaft Kinder und Jugendliche kein Recht auf eine eigene sexuelle Entfaltung, unbehelligt von den Erwachsenen? Dann müßten wir künftig bitte auf jeglichen derartigen Utopismus verzichten, denn eine wie immer geartete akzeptable Sexualität kann nur in Freiheit und Freiwilligkeit existieren! Wie jedermann heute weiß, gelten diese Prinzipien selbst in den "härtesten" S/M-Beziehungen.
Damit in irgendeiner ferneren Zukunft wieder experimentelle Formen des Zusammenlebens möglich sein können, ohne die Kontamination durch die Altlast Mühl und die Wiederholung unerträglicher Fehlentwicklung, ist es jetzt erst einmal notwendig, die unheilvolle Allianz von Legendenbildung und Lüge, von Romantisierung und Reibach zu zerstören und mit folgenden Mühl-Legenden endlich aufzuräumen:

Legende Nr. 1: Mühl, Märtyrer der Kunst
Der eigentliche Grund seiner Verurteilung wird von den Sympathisanten immer irgendwie nebulos umschrieben: "Das Landesgericht Eisenstadt verurteilt Otto Mühl zu sieben Jahren Haft wegen strafbarer Handlungen gegen die Sittlichkeit und das Suchtgiftgesetz", steht sachlich unrichtig z.B. in der Biographie des MAK-Kataloges und der Gefängnis-Briefe. Dafür werden umso ausführlicher alle Gebrechen des über 70-jährigen aufgelistet - und natürlich dem Gefängnis zugeschrieben: grüner Star, Arterienverkalkung, beginnender Parkinson... Da bekommt der uninformierte Leser gleich Mitleid mit dem Aktionisten-Opa, fühlt ganz allgemein Solidarität aufsteigen, sieht die sexuelle Freiheit und das Recht auf Rausch im allmächtigen bieder-bürgerlichen Staat gefährdet, gewinnt gar den Eindruck, Mühl sei letztlich wegen seiner Kunstprovokationen im Gefängnis gelandet (Nitsch: "er muß für uns radikale Künstler büßen"). Genau das ist jedoch nicht der Fall, es sei denn, man wertete Sex mit minderjährigen Abhängigen, ja Vergewaltigung, seit neuestem als Kunstaktion. So freilich war das mit den neuen Kunstformen, die der Wiener Aktionismus seinerzeit aufs Tapet brachte, nicht gemeint, jene wichtige Kunstrichtung, der er auch weiterhin immensen Schaden zufügt, indem er ihre Formel "Kunst = Leben" derartig mißbraucht und somit kriminalisiert. Und das auch noch vor dem Hintergrund des Erstarkens einer neuen Rechten... Jedenfalls hat der Künstler nicht mehr und nicht weniger Rechte als der Nicht-Künstler. Seine Kunst hat, sobald sie das Reich des symbolischen Raums und der Fiktion verläßt, sich an die verbindlichen Grenzen des Strafgesetzbuches zu halten; Überschreitungen derselben, soweit sie ihm unbedingt notwendig erscheinen, hat er persönlich zu verantworten. Sonst wäre am Ende sogar Mord ein Mittel der Kunst und die Hitler, Stalin, Pol Pot etc. post festum die größten Genies der Menschheit (irgendwelche geistig nun wirklich Verwirrte sehen das übrigens so). Mühls Verhandlung vor einem ordentlichen Gericht war fair, weder seine Kunst noch gar die Kommune als solche waren Gegenstand des Verfahrens: Die Abrechnung mit dem System am Friedrichshof sei nicht Aufgabe des Gerichts, stellte die Richterin klar. Von seinen Untaten wurde nur ein kleiner Teil verhandelt - und schon gar nicht der alltägliche Machtmißbrauch gegen jedermann. Nur wenige der betroffenen Mädchen brachten überhaupt den Mut und die Kraft auf, Anklage zu erheben, auch ließen sich manche "ausbezahlen": Schweigegeld.

Legende Nr. 2: Mühl, Opfer der herrschenden "Kleinfamilienwichtel"-Moral
Vergewaltigung, Sex unter Zwang, schon überhaupt Kindesmißbrauch und Kindesmißhandlung, dürfen gerade in sexuell freizügigen Gemeinschaften kein Kavaliersdelikt sein. Wer sich an eigene Pubertätsphantasien erinnert, an jene dubiose Sehnsucht, von einfühlsamen kundigen Erwachsenen, in die man irgendwie verliebt war, in die Sexualität eingeweiht zu werden, weiß auch, daß dieser Wunsch eigentlich nur als Tagtraum funktioniert, genauso wie Vergewaltigungsphantasien von Frauen. Zudem handelte es sich im Fall Mühl eben gerade nicht um zärtliche Liebesbeziehungen zu erwachsenen Kommune-Mitgliedern, die von den jungen Mädchen selbst dazu ausgewählt worden wären, vielmehr sah ganz allein Mühl es als sein Recht an, die "Mädchen in die Sexualität einzuführen", ob sie nun wollten oder nicht, ebenso wie seine Frau Claudia die Jungen sexuell nötigte, zu Oralverkehr zwang, etc. Unter fadenscheinigen pädagogischen Vorwänden lebte der sexuelle Feudalherr ungeniert seine Allmacht, seine Unterwerfungsphantasien und seine pädophilen Neigungen aus, wobei er sich nach Belieben an die rechtliche Grenze von 14 Jahren hielt oder eben nicht - in dem Alter seien sie ja noch so richtig "knusprig", wie der Greis nach seiner Entlassung im Fernsehen verriet. Mädchen, die sich ihm verweigerten, versuchte er mit allen möglichen Mitteln herumzukriegen, auch mit Drogen und Medikamenten, oder nötigte sie unter Zwang, indem er die Tür absperrte und sie vergewaltigte: "Otto Mühl machte eine blöde Anspielung, er wolle mit mir schlafen. Ich nahm es nicht ernst, weil ich überhaupt nicht wollte. Da erpresste er mich, indem er sagte, er habe bereits mit allen meinen Freundinnen geschlafen. Das war für mich ein Schock. Ich wußte davon nichts und konnte es nicht glauben. Ich wollte rausrennen, wehrte mich körperlich und war vollkommen benommen. Otto schickte alle raus und schloß die Tür ab. Er zog sich aus, während ich wie gelähmt in der Ecke stand. Er befahl mir, mich auszuziehen. Ich gab nach, sagte aber immer nur 'nein'. Ich fühlte mich wehrlos. Er ging darüber gefühllos hinweg. Ich weiß nicht mehr, was weiter geschah. Ich hatte körperliche Schmerzen, blutete und weinte. Ich fühlte mich sehr gedemütigt und minderwertig." (Zeugeninnenaussage/Anklageschrift J.B., zitiert nach Schlothauer S.112)
Die Mädchen wurden unter so massiven psychischen Druck gesetzt, nicht zuletzt von den eifersüchtigen, konkurrierenden Frauen um Mühl, daß sie sogar Selbstmordphantasien entwickelten. Gleichzeitig verbot er jeden Kontakt zu den gleichaltrigen Jungen - die Mädchen sollten allein ihm zur Verfügung stehen, bis sie 17 oder 18 Jahre alt gewesen wären. Nur die rigidesten religiösen oder politischen Wahnsysteme haben Verliebtheit und erotischen Kontakt zwischen Jugendlichen verboten. Wer sich schließlich unterwarf, gehorchte und mit dem Unvermeidlichen abfand, hatte Aufstiegschancen in der sonst strikten Hierarchie der Kommune. Was Mühl in seinem jüngsten Interview mit Museumsdirektor Noever zum Thema Sex äußert, ist ein Schlag ins Gesicht seiner Opfer: "Die Sexualität zu gestalten, heißt für mich nicht unbedingt, sie auszuleben, sondern vielmehr, sie in einem sozialen Rahmen zu bewältigen. (...) Und schließlich hat Sexualität auch etwas mit Verantwortung zu tun, die Verantwortung der Eltern für die Kinder." Dieser Mann ist entweder verrückt oder ein notorischer Lügner oder beides! Nicht nur hat Mühl nicht einmal den Hauch einer sexuell wirklich freien Entwicklung der neuen Generation zukommen lassen, nein, er blieb mit seinem System noch weit unter dem Niveau jeder patriarchalisch dominierten Kleinfamilie, die er großspurig für überwunden erklärte. Er behauptete, die Welt von der "Kleinfamilienwichtelei" befreit zu haben bzw. befreien zu können, und träumte im Rahmen apokalyptischer Untergangsvisionen, wie z.B. in der Zeit des Tschernobyl-Gaus, gar von der Übernahme der Welt durch den "neuen Menschen" Mühl'scher Prägung. Wem dieses Gedankengut bekannt vorkommt, der ist auf der richtigen Spur...

Legende Nr. 3: Mühl, Opfer des bürgerlichen Staates
Wenn Michel Onfray behauptet: "Der Staat, seit Jahrzehnten der Eskapaden des Aktionisten überdrüssig, nützte die Gelegenheit und beschloß durch seine Gerichte sieben Jahre Haft", so übersieht er mutwillig, daß im heutigen Rechtsstaat zum einen das Prinzip der Gewaltenteilung zumindest annähernd sichert, daß die Justiz nicht einfach Büttel des Staates ist, zum zweiten dieser keinerlei Grund hatte, der AAO-Kommune oder ihrem Anführer an den Karren zu fahren, im Gegenteil: Es erfuhr wohl bisher weltweit keine alternative Lebensgemeinschaft so massive Unterstützung und Förderung durch staatliche Stellen und Politiker sogar der höchsten Ränge, egal ob es um Gelder oder Genehmigungen ging, und das über viele Jahre. Der Ex-Bundeskanzler Bruno Kreisky bezeichnete noch 1988 in einem Empfehlungsschreiben an den spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez Otto Mühl als "meinen Freund und großen Maler, vielleicht den besten, den wir in Österreich haben." Unterstützung kam von vielen Seiten, nicht nur von Künstlern wie u.a. Beuys. Wichtige Beamte oder Politiker waren gern gesehene Besucher am Friedrichshof, wurden entsprechend hofiert und mit Gegengaben mancher Art bedacht... Schließlich war die Verflechtung soweit gediehen, daß der Staat sogar eine ganze Weile noch versuchte, den Skandal klein zu halten und unter den Teppich zu kehren. Mit Hilfe des Wiener Bürgermeisters und ehemaligen ORF-Intendanten wurde zu einem Zeitpunkt, da der Kommune bereits der Wind ins Gesicht blies, noch ein "positiver" Film in die Medien lanciert. Otto Mühl ist alles andere als ein Staatsopfer, im Gegenteil: Der vielgeschmähte Staat der Kleinfamilienwichtel duldete nicht nur seine Art Staat im Staate, sondern förderte ihn geradezu.

Legende Nr. 4: Die Mühl-Kommune, Hort der Freiheit, Kreativität und Basisdemokratie
Michel Onfray: "Als Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, die vom Abzapfen und der Wiederverwertung der Energie zehrt, die vom Verzicht der Individuen auf ihre Identität herrührt, schlägt der Künstler eine auf dem hedonistischen Prinzip begründete, jederzeit widerrufbare Gemeinschaft und Wahlverwandtschaft vor, wodurch die Handlanger der Malaise - Patriarchat, Privateigentum, Familie, Kolonialismus sowie alle vom Gesellschaftlichen ersonnenen und geförderten Formen der Unterwerfung - verschwinden würden." Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Der vor Gericht verhandelte Mißbrauch von Minderjährigen war nur die äußerste Spitze eines allgemeinen, umfassenden und strukturellen Machtmißbrauchs - und der war leider nicht Gegenstand der Anklage. Die Mühl-Kommune, in der Frühzeit als real existierende Utopie propagiert (AA-Prinzipien u.a.: freie Sexualität, gemeinsames Eigentum, gemeinsame Arbeit und Produktion, gemeinsames Kinderaufwachsen, direkte Demokratie), war die längste Zeit eben keine libertäre, basisdemokratische Gemeinschaft, sondern hat sich zunehmend in eine autoritäre, sektenartige, streng hierarchisch gegliederte Organisation verwandelt, wofür Otto Mühl als unangefochtenes Oberhaupt sowie der innere Kreis um ihn verantwortlich waren. Gab es für kommune-interne Entscheidungen schon keine "parlamentarische" Kontrolle geschweige denn Mitbestimmung, so existierten auch die gesetzlich vorgeschriebenen Selbstverwaltungsgremien der offiziellen "Wohnbau-Genossenschaft Friedrichshof" nur auf dem Papier, ihre Funktionen nahm wie alles andere auch der "Zwölferrat" unter seinem großen Vorsitzenden Otto in die Hand. Kritik war nicht vorgesehen, wurde als Neurose, Nestbeschmutzung und Verrat unterdrückt. Man kann durchaus von Formen einer vormodernen Diktatur sprechen, von praktischer Leibeigenschaft in einer wiedererweckten Feudalgesellschaft, in deren Mittelpunkt Otto Mühl stand, als Roi Soleil vom Burgenland. Otto hatte Anspruch auf Alles und Jeden, auf Männer und Frauen als Arbeitskräfte, auf die Frauen als Sexualobjekte und Mütter, auf die Kinder als zukünftige AAO-Menschen. Übrigens wurden alle Kinder als Ottos Erzeugnisse gefeiert, selbst wenn sie kohlrabenschwarz waren und offensichtlich einen Schwarzafrikaner zum Vater hatten. Otto belohnte, Otto strafte ab, er nahm in seinen Kreis auf und er schloß die aus, die sich ihm widersetzten. Es gab kein Briefgeheimnis und keine Privatsphäre, und liest man Alltagsberichte aus der Kommune und ihren Ablegern in anderen Städten, so entsteht das Bild einer weitgehend totalitären Gemeinschaft, die jede Handlung ihrer Mitglieder kontrollierte und verplante - jede Tasse Kaffee, jeder Fahrschein mußte abgerechnet werden, es bestand Anwesenheitspflicht zu den alltäglichen Gruppenveranstaltungen, der Kontakt nach außen wurde gegen Null reduziert, sobald die Anwerbephase in den 70ern beendet war. Bei Fehlern wurde man von den Gruppenleitern oder in der "Selbstdarstellung" am SD-Abend fertiggemacht. Es herrschte ein Klima von gegenseitigem Mißtrauen, Angst und Denunziation, von Falschheit und Heuchelei. Unterwerfung und Selbstaufgabe waren gefordert, Individualität und Selbstentfaltung als Formen kleinbürgerlicher Neurose verteufelt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen waren streng hierarchisch reglementiert durch die "Struktur", die zwar angeblich offen war, tatsächlich aber zu einer rigiden Zweiklassenbildung führte: den Arbeitsbienen unten und den Privilegierten oben, die für ihren Größenwahn verbrauchten, was die anderen herbeischafften. Vorübergehend konnte selbst ein Privilegierter in Ungnade fallen, von unten hoch kamen nur wenige und oft nur für kurze Dauer ("sich in der Hierarchie hochpudern" wurde das intern genannt). Die Kinder wurden von klein auf an die "Struktur" gewöhnt, deren obere Ränge schließlich vererblich wurden: Mühls und Claudias Sohn Attila erzog man zum "Thronfolger", der aufgefordert wurde, andere Kinder zu schlagen, die nicht zurückschlagen durften - O-Stimme Mühl: "Ich will doch keinen Demokraten erziehen". Attila sollte der "Superbulle" werden und wurde von den Führungsdamen auf diese sexuelle Rolle hintrainiert.
Nach außen hatte die Kindererziehung einen Touch "Summerhill" und "Kinderladen", gab sich anti-autoritär, frei, kreativitätsfördernd, und begeisterte so anscheinend zu Recht viele Außenstehende, Leser der "AA-Nachrichten" und der "Frauenforderung", der Bücher und Postermanifeste, Besucher von Vorträgen, Filmen und Workshops. Tatsächlich wurden die Kinder zum Teil schon im Alter von wenigen Monaten von den Eltern getrennt, um ja keine "Kleinfamilienwichtelei" entstehen zu lassen, wurden massiven Erniedrigungszeremonien und quälenden Demütigungen vor großem Publikum unterzogen, wenn sie sich nicht so verhielten wie erwartet. Prügel waren gang und gäbe. Mühl: "Das Kind aber ist weder Persönlichkeit noch Mensch, sondern ein kleines Viech, (...), das man domestizieren muß, wie einen Hund." Seine Pädagogik war von vorvorgestern: Kinder müssen gebrochen werden, sie brauchen Härte und Brutalität. Kurzum: auch die Kindererziehung war die reine Katastrophe, und noch lang, vielleicht bis heute, litten viele ehemalige Kommunekinder an Depressionen und Psychosen.
Zu einem alternativen Leben hätte auch eine alternative Form des Wirtschaftens gehört. Stattdessen partizipierte man ausgerechnet an den fragwürdigsten Sparten des Kapitalismus, wurden in den 80ern alle verfügbaren Arbeitskräfte einem intensiven Verkaufstraining unterzogen, um in kommune-eigenen Firmen teilweise dubiose Immobiliengeschäfte zu tätigen, Versicherungen und Aktien zu verkaufen und damit Millionen auf Schweizer Konten zu scheffeln. In Holland betrieb man kriminelle Geschäftspraktiken in so großem Ausmaß, daß ein Strafverfahren eröffnet wurde und die Beteiligten untertauchen mußten.

Legende Nr. 5: Die Mühl-Kommune, Ort freier Sexualität
Während die Zweierbeziehung die längste Zeit absolut verpönt, ja verboten war, schrieben "Fick-Listen" vor, wer mit wem die Nacht zu verbringen hatte, d.h. welcher Mann im Doppelbett welcher Frau mitschlafen durfte. In regelmäßigen Sex-Palavern wurden die sexuellen Leistungen jedes einzelnen, vor allem jedoch der Männer, untersucht und öffentlich bewertet. Da Otto von Haus aus der Beste, der Geilste und der Größte war, zogen alle anderen Männer automatisch den kürzeren. Sie mußten sich den Frauen andienen, um beim nächsten Palaver nicht völlig durchzufallen. Generell wurden die Männchen der Gemeinschaft kleingemacht, damit sie dem Alpharüden nicht gefährlich werden konnten. Und wenn sie in ihrem kleinen Badesee um die Wette schwammen, dann lief das ab wie seinerzeit in der Kommune hinter der Großen Mauer: Mao Mühl, der Große Vorsitzende, gewann immer, die Jüngeren und Kräftigeren bremsten eben ihren Schwung so ab, daß sie brav nach ihm das Ufer erreichten. Die AAO-Männer hatten die Eunuchen zu sein im großen Harem des Otto Mühl. Der gebärdete sich als Matriarch, der das Patriarchat aus den Angeln gehoben hätte und die Frauen an die Macht. Tatsächlich waren sie als potentielle Fickpartnerinnen der Großen Vorsteherdrüse allemal näher an der Macht als die "kastrierten" Männer. In ihrer Hörigkeit schwelgten sie geradezu im Abglanz des großen Paschas, prahlten vom Sex mit Mühl: immer der beste, den sie überhaupt je gehabt hätten. Vielleicht ist es auch die ganz spezielle Mischung aus Sex, Gewalt und Demütigung, die Mühl in seinem Bett walten ließ, die einen bestimmten Typus von Frauen anzog und erzog. Solange sie sich in diesem System arrangierten, verdrängten oder genossen sie gar die Demütigung, fühlten sich geradezu auserwählt, wenn sie an der Reihe waren zur Beschälung, und benahmen sich insgesamt wie konkurrierende Haremsdamen. Und schließlich verstieg sich dieser Stolz soweit, daß sie ihm teilweise ihre eigenen Kinder nachgerade servierten, um in der Beliebtheitsskala eine Sprosse weiter nach oben zu gelangen. Mehr noch, übertrug sich das Gefühl des Auserwähltseins selbst noch auf die mißbrauchten Kinder und Jugendlichen, die sich damit über ihren Ekel vor dem alten Mann und seinen Sexpraktiken hinwegzutrösten versuchten, indem sie sich auserkoren fühlten, wie kleine Prinzessinnen über den Gleichaltrigen.
Homosexualität war streng untersagt und führte unweigerlich zum Hinauswurf aus der Gemeinschaft. Wurde Mühl hinterbracht, daß irgendwo in seinen Kommunen etwas Lesbisches oder Schwules sich anbahnte, dann wurden die Betroffenen zum Friedrichshof zitiert, mußten abschwören und sich in getrennte Städte begeben oder die Gemeinschaft ganz verlassen. Des Führers sexuelle Gewohnheiten bildete die sexuelle Norm der Gruppe.
Jegliche Form von Spiritualität beim Sex wurde lächerlich gemacht, so stand das Mühl'sche Sex-Konzept nicht nur in krassem Gegensatz zu Liebeslehren wie Tantra, sondern zur Liebe überhaupt. Jahrhundertelang traf man sich zum Sex eher heimlich, jetzt war Händchenhalten ein strafwürdiges Delikt... Wenngleich Mühl Sex nach wie vor für das Wichtigste im Leben hält, hat er doch kein wirklich befreites Verhältnis dazu, wie diese Stelle aus dem Gespräch mit Roussel illustriert: "Auch die Sexualität mag einem nicht schön vorkommen, wenn man sie anschaut. Mich ekelt immer, wenn ich andere ficken sehe. Aber wahrscheinlich kriegt man Aggressionen, weil man nur eine sehr einfältige Bewegung sieht, eher dumm." Dieser Satz ist wahrhaftig einer alten Betschwester würdig! Dennoch lobt ihn Onfray ebenso hymnisch wie kitschig als wahrhaft Libertären, den selbst der Kerker nicht brechen konnte: "Nach wie vor verhaßt sind ihm Todessehnsucht, Kasteiung, Dulden und Leiden, Brutalität und Gewalt, Ausbeutung und Entfremdung, immer noch feiert er Sinnenlust und Sexualität, Entfaltung der Körper, strahlende Energien, Lust und Wonne des Fleisches." Das genaue Gegenteil ist die Wahrheit. Da Monsieur Onfray sich wohl kaum eine Gehirnwäsche gefallen lassen hat, bleibt als Erklärung nur, daß er absichtlich und einseitig über Jahre falsch informiert, für die Mühl-Propaganda indoktriniert und so mit all seiner Intelligenz vor den Karren dieser fatalen Sache gespannt wurde. Ehemalige Bettgenossinnen wissen über Mühl anderes zu berichten: "Im Bett ist er ein Spießer. Er ist der große Macho, und er will's wissen. Er behandelt dich wie ein Stück Fleisch. Ich hab' etliche Frauen erlebt, die mit Blutergüssen aus seinem Zimmer gekommen sind. Beim Otto ist das normal." Auch auf älteren Schallplatten von Mühl kann man hören, wie die Frauen beim Geschlechtsverkehr von ihm geschlagen und mit wüsten Beschimpfungen gedemütigt werden. Nicht Geilheit, Geschlechtshaß war die Triebkraft des Otto-Motors...
Ebensowenig ist seine jetzige Malerei eine Verherrlichung des Sexus: "Wenn ich male, dann bin ich gar nicht geil, sondern ich sehe den Spießer vor mir, dem ich eins in die Fresse hauen möchte. Ich sehe, wie er entsetzt aufjault, wenn er das sieht." Spekulativ und unsinnlich wie alles von ihm! Abgesehen davon, daß er offensichtlich den Toleranzpegel heutiger Zeiten unterschätzt und im Vergleich zu dem, was nicht nur in den Porno-Abteilungen der Videothek um die Ecke, sondern auch in den Werken zahlreicher Kollegen in der ganzen Welt geboten wird, auch nur wie ein pubertärer Witzbold aussteigt, ist das Ansinnen sowieso lächerlich. Angeblich noch existierende Tabus zu verletzen, nur um zu schockieren, das fällt eben nur einem spießigen Maler ein und hat mit wirklichen Grenzüber-schreitungen nichts zu tun.

Legende Nr. 6: Mühl, Anarchist und Künstler-Philosoph
Michel Onfray: "Brief, Zettel, Zeichnungen, Gemälde, Gespräche, die über die Gefängnismauern kamen, zeugen von einer wahrhaft sonnenhaften anarchistischen Theorie in absoluter und radikalster Form." Dies scheint auf den ersten Blick zu stimmen: "Ich bin gegen jede Form von Herrschaft. Die Kunst attackiert, was die Menschen an der kreativen Entfaltung hindert." Doch solchen einzelnen Äußerungen stehen nicht nur Praxis und Alltag der Kommune entgegen, sondern auch eine Vielzahl von reaktionären und geradezu totalitären Vorstellungen eines Stänkerers, der sich von Zitat zu Zitat mehr in eine echte Übelkrähe verwandelt: "alle, die mit dem staatlichen gewaltkonstrukt den wild gewordenen affen bändigen wollten, waren selbst die schlimmsten, hirnkranken bestien. inzwischen kommt das alte untier, der staat im demokratischen schafspelz daher. der alte mörder, senil und impotent geworden, liegt im sterben. er degenerierte zum umtriebigen demokratischen mistkäfer. (...) kultur hat nicht die aufgabe, die hirne zu vernebeln, sondern ist sterbehilfe für den staatsapparat, egal, ob es sich dabei um eine verbrecherische diktatur oder um eine demokratische affenherrschaft handelt." (Manifesto) Wie kann ein solcher Antidemokrat es überhaupt wagen, sich zum Vorstand einer Kommune zu machen? Und wie dumm mußten seine Anhänger sein, über Jahrzehnte hinzuhalten? "Bei Hitler mitmachen war schon ein ziemlicher Horror. Das Mitmachen hier bei diesem ganzen demokratischen Geraufe ist aber viel charakterloser." Man merkt an vielem, daß seine Jugend, daß sein Weltbild vom Nationalsozialismus geprägt ist: Jeder sei nur ein Element, das Ganze stehe über dem Einzelnen. Aussagen von Cézanne und anderen Malern wendet er auf menschliches "Material" an und pervertiert so Kunst zu Gesellschaftstheorien wie Hitler seinerzeit biologische Gegebenheiten auf die Gesellschaft anwendete. Er träumt vom "Neuen Menschen" und trifft eine entsprechende Zuchtwahl in der Kommune: "Da darf nicht jeder mit jedem ein Kind machen. Das muß alles angemeldet werden" - und von ihm genehmigt. Die Frauen hatten einen Antrag zu stellen, ob eine Schwangerschaft genehm sei, ob sie die nötige ideologische Reife besäßen und mit welchem Vater. War es schon passiert und erschien die Frau in seinen Augen ungeeignet, mußte sie eben abtreiben. Je jünger die Mütter, desto besser, am besten noch im Teenageralter. Die Mutter wurde nach außen hin hochgehalten, tatsächlich wurde sie als Ursache aller Neurosen mißtrauisch beäugt und ihr das Kind möglichst schnell weggenommen, um es an die "Struktur" zu übergeben, der Autorität des Übervaters Mühl und der Übermutter Claudia zu unterstellen: "Gerade wo die Mutterliebe ist, das ist was sehr gefährliches. Das wird dann faschistisch."
Um die Macht des Herrscherpaars zu demonstrieren, war nichts groß genug. Schon existierten die Pläne einer riesigen Anlage auf Tausenden von Quadratmetern mit überlebensgroßen Figuren vom Pharao Otto und seiner Claudia als Mausoleum zu ewigem Gedenken. Ein Kommune-Speer brütete bereits über den Entwürfen...
Evolution sei das alleinige Triebwerk der Geschichte, man könne nicht auf sie einwirken, sie rolle über uns Menschen hinweg, man könne nur "in der evolutionären drift" schwimmen. "Selektierung", das Schlüsselwort der Vernichtungslager, das einem Todesurteil für alle Kranken und Geschwächten gleichkam, ist eines seiner Lieblingswörter. Jede menschliche Erfindung diene diesem biologischen Mechanismus, auch Wirtschaft und zunehmende Globalisierung: "da 3/4 der weltbevölkerung sich aus unkreativen und pseudokreativen robotern zusammensetzt, hat dieser fortschreitende prozeß die evolutionäre selektierung der kulturell zurückgebliebenen zur folge". Von den normalen "kultur-exekutivtrotteln", den Künstlern, die angeblich für den Staat produzierten, grenzt er sich ab: "ich brauche sie, um mich als einen anderen zu erkennen. ich hoffe aber trotzdem, daß sie der evolutio-nären entlausung des erdballs zum opfer fallen werden."
Als Maulheld der faschistoiden Sprüche ist er besessen davon, "auszumisten", ob bei den Politikern, in der Gesellschaft oder in der Kunst: "wo ist herakles, der den augiasstall der kunst ausräumt, der die undankbare aufgabe übernimmt, mit dem buschmesser die verkrüppelten gewächse des kunstbetriebes auszuholzen? (malerei, musik, literatur, theater, oper, tanz). in der nährlösung des erweiterten kunstbegriffes wuchern grenzüberschreitende parasiten zuhauf". Kunst und Musik von heute sind ihm "sondermüll", "wucherndes gewebe", das mit schnellen schnitten zu beseitigen wäre, "tonbandkarzinome", in denen die Künstler "ihren gestank ablassen", die Künstler sind "gesindel", und verantwortlich für diese Entgleisungen sei "der große mafioso marcel duchamp". Das ist die Sprache von Verbalrabauken und Brunnenvergiftern. Onfray lobt ihn als großen Denker mit nietzscheanischem Gelächter - er muß ein anderes Buch gelesen haben.
In seinen Briefen und Gesprächen gibt er sich gebildet, ja gelehrt, durchkämmt die Philosophie- und Kunstgeschichte von Platons Höhlengleichnis bis Hegels Weltgeist, zerrt mal Flaubert, mal Adorno, mal Stirner hervor - und kommt doch über Gemeinplätze und Pseudotiefsinn nicht hinaus. Belanglosigkeiten mischen sich mit latentem Blödsinn. Wen das beeindruckt, der hat es verdient. Hier hat der Oberlehrer das Sagen, der hält Philosophiestunde am Stammtisch, wo er sich des Beifalls unter seinesgleichen sicher sein kann.Ganz wie ehedem auf dem Friedrichshof, unwidersprochen und noch bei der größten Platitüde von seinen Schäfchen bestaunt wie ein Erleuchteter: "Hat überhaupt schon ein Maler das Sperma dargestellt?" - "Das kannst aber nur du." - "Man sieht es auf dem Photo nicht so gut, aber es glänzt, es strahlt. Es ist ein bißchen wie eine Ikone." - "Die Hände kannst du perfekt. Niemand kann die Hände so zeichnen." - "Das ist ja genial, ich glaube, ich habe es begriffen." - "Wieso? Hältst du denn Picasso für einen großen Künstler?" - "Dieses Bild war bei Kurt Kalb ausgestellt, die Leute haben fast geweint." Und die Zahl 7 auf einem seiner Bilder (gemeint sind die 7 Jahre Haftstrafe) kommentiert Frau Roussel mit der unübertrefflichen Bemerkung: "Das schaut aus wie bei den Juden, die die Nazis mit Stempel markiert haben."
Er präsentiert sich als grandioser Künstler-Philosoph, und reduziert doch stereotyp alles und jedes auf das Thema Nr. 1: "(...), die Aufgabe der Musik ist es, sexuelle Begierde zu erwecken. Das ist Therapie, weil alle ja sexuell geschädigt sind. Die Musik, die das nicht macht, das ist die E-Musik; Beethoven, Mozart und die anderen Verbrecher, sie machen Musik für den Staat und die Kirche. Da geht es um die Entkörperlichung, daß man Vergeistigung betreibt." Schnell ist er mit psychiatrischen Einordnungen zur Stelle: "Als Kunst artikuliert sich der religiöse Schwachsinn des Spießers Sebastian Bach, die kunstvoll artikulierte Depression des liebeshungrigen Schubert, der analfixierte Mozart, sie sind der kulturelle Misthaufen zur Verblödung des Festwochengesindels, das sich wie Schmeißfliegen am perversen Gestank der Fäkalien dieser Künstler aufgeilt."
Eingebildet und aufgeblasen bis zum Größenwahn identifiziert sich dieses Breimaul hingegen mit Van Gogh: "wird die haft zu meinem arles?" Mit seinen Körperdarstellungen sieht er sich in der Nachfolge von Klimt und Schiele, seine jetzige Malerei bezeichnet er großspurig als "Aktionskonzepte": "Ich bin jetzt wieder zum Aktionismus zurückgekehrt und mache aktionistische Malerei. z.B. zeichne ich eine Frau, die in eine Eierspeise steigt." Wenn die Ausflüße dieses Sudelkopfs nicht so ärgerlich wären und noch ärgerlicher der Beifall dafür, ließe sich das alles als ein wunderbares Konglomerat unfreiwilliger Komik begreifen. Schade, daß Qualtingers "Herr Karl" schon das zeitlos gültige Porträt des austriakischen Fascho-Raunzers geliefert hat, Herr Otto hätte eine überaus geeignete Vorlage abgegeben für die 90er. Hier liegt ein ungehobelter Schatz für Dramatiker, Drehbuchschreiber, Kabarettisten begraben.
Auf die Frage, welchen Zweck er selbst mit dem Malen verfolge, definiert Bramarbas Mühl: "Malen hat nur den Zweck, daß man sich zu einem geilen Subjekt stilisiert. (...) Alles andere ist verfehlt. Und zwar als Mensch haut das nicht hin, dann ist der Künstler nichts wert, und die Kunst erst recht nichts. Das sieht man schon bei Gustav Mahler - uninteressant." Und die zentralen Fragen, "der Sinn des Lebens"? Mühls Essenz: "Cäsar, Napoleon, Stalin, Lenin, Hitler haben irrsinnig große Sachen geleistet, von denen die Welt heute immer noch spricht, sei es negativ oder positiv, immerhin, das erste muß man erreichen im Leben, daß geredet wird, sonst hat das Leben keinen Sinn." Möge das Geschwätz dieses unseligen Aufschneiders bald in einem entlegenen Winkel der Abstellkammer Geschichte verschwinden, kein Wort mehr!

 

Neuere Literatur (ab 1990) von und über Otto Mühl:

Toni Elisabeth Altenberg: Mein Leben in der Mühlkommune. Freie Sexualität und kollektiver Gehorsam; Böhlau Verlag, Wien/ Köln/ Weimar 1998, ISBN 3-205-98953-8
Patricia Grzonka: Rückkehr in den Sumpf; in: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst, Bd. IV Heft 1; Folio Verlag, Wien/ Bozen 1998, ISBN 3-85256-083-7 (1/98)
Friedrich-Wilhelm Haack/ Bernd Dürholt/ Jutta Künzel-Böhmer/ Willi Röder: "Therapie" als Religionsersatz. Die Otto-Muehl-Bewegung; Maro Verlag, Augsburg 1990, ISBN 3-921513-92-8
William Levy: Unser Freund Otto Mühl. Eine Studie zum Kulturschock; Werner Pieper's MedienXperimente, Löhrbach 1998 (=Der grüne Zweig 199), ISBN 3-925817-99-9
Otto Muehl. Arbeiten auf Papier aus den 60er Jahren; Ausstellungskatalog Portikus, Frankfurt a.M. 1992, ISBN 3-928071-10-6
Peter Noever, MAK (Hrsg.): Otto Mühl 7; Cantz Verlag Ostfildern 1998, ISBN 3-89322-972-2
Danièle Roussel (Hrsg.): Otto Mühl - Aus dem Gefängnis 1991-1997. Briefe/ Gespräche/ Bilder; Ritter Verlag, Klagenfurt 1997, ISBN 3-85415-214-0
Andreas Schlothauer: Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof; Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1992, ISBN 3-85115-157-7
Peter Stoeckl: Kommune und Ritual. Das Scheitern einer utopischen Gemeinschaft; Campus Verlag, Frankfurt/ New York 1994, ISBN 3-593-35074-

Außerdem, zum Umfeld (Wiener Aktionismus, '68):

Kerstin Barnick-Braun: Der Wiener Aktionismus. Positionen und Prinzipien; Böhlau Verlag, Wien 1998, ISBN 3-205-98953-8: Von den Wurzeln in den Kunsttendenzen seit der Jahrhundertwende - Sprachkritik, Zerstörung der Formen, Hinwendung zum Körper - bis zu den Künstlern und ihren Aktionen selbst. Unbebildert, aber mit ausführlicher Bibliographie.
Bärbel Danneberg/ Fritz Keller/ Aly Machalicky/ Julius Mende (Hrsg.): die 68er. eine generation und ihr erbe; Döcker Verlag Wien 1998, ISBN 3-85115-253-0: Über 30 Aufsätze zum gesamten Umfeld und politisch-sozialen Hintergrund des Wiener Aktionismus, u.a. Danneberg: Die Muehlkommune. Eine Bilanz des Woher und Wohin mit Originaltexten, Flugblättern, etc.
Sabine Fellner: Kunstskandal! Die besten Nestbeschmutzer der letzten 150 Jahre; Verlag Ueberreuter, Wien 1997, ISBN 3-8000-3641-X: Österreich-Provokationen vom 19. Jahrhundert (u.a. Waldmüller) über die Jahrhundertwende (Makart, Klimt, Kokoschka, Loos) bis zu den Wiener Aktionisten, speziell Hermann Nitsch. Wenige Abbildungen.
Maria Fialik: "Strohkoffer"-Gespräche; Zsolnay Verlag, Wien 1999, im Erscheinen: Recherchen und Interviews zur "Wiener Gruppe" (Artmann, Achleitner, Bayer, Rühm, Wiener), die als Vorausbewegung des Wiener Aktionismus gewertet werden.
Hermann Nitsch - Leben und Arbeit, aufgezeichnet von Danielle Spera; Verlag Christian Brandstätter, Wien / München 1999, ISBN 3-85498-005-1: Ausführliches biographisches Interview, opulent bebildert. Filmographie und Register fehlen.
protokolle - Zeitschrift für Kunst und Literatur, '90/ 1: Der Selbstmensch - Kunst als Lebenspraxis; Hrsg. Otto Breicha, Verlag Jugend & Volk, Wien/ München 1990, ISBN 3-224-16108-6: Texte von Brus und Nitsch und Aufsätze von Loers (Vom Mythos zur Synästhese - Bemerkungen zum Aktionismus von Hermann Nitsch) und Meifert (Zweimal Geborene - Der Wiener Aktionismus im Spiegel von Mythen, Riten und Gesichten).
Danièle Roussel (Hrsg.): Der Wiener Aktionismus und die Österreicher. Gespräche; Ritter Verlag, Klagenfurt 1995, ISBN 3-85415-162-4: Zahlreiche Interviews mit Protagonisten, Teilnehmern, Zuschauern, Beobachtern, Interpreten.
Paul Schimmel: Out of Actions. Aktionismus, Body Art und Performance 1949-1979; Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 1998, ISBN 3-89322-956-6: Unter den zahlreichen Künstlern dieser internationalen Ausstellung auch die Wiener Aktionisten mit ihrem besonders radikalen Ansatz.