WIENER AKTIONISMUS

Aktion. Re-aktion

Franziska Meifert
Konzeptionelle Mythen am und im Wiener Aktionismus, ein Literaturbericht
(publ. in: testcard # 12/2003)

 

"Das Medium ist die Aktion"

Ein Mann läuft, weiß bemalt von Kopf bis Fuß, inclusive Anzug, durch die Stadt, nur ein krummer schwarzer Längsstrich spaltet das Weiß vom Scheitel abwärts; ein wie eine Mumie vollkommen Einbandagierter hantiert mit einem toten Huhn, das durch eine daran befestigte Glühbirne von innen heraus leuchtet; ein junger Mann schlägt über einem nackten Frauenhintern ein Ei auf; ein Mann im blutbesudelten Kranken- oder Priesterhemd steht mit ausgebreiteten und an Schnüren festgebundenen Armen vor einer ebenfalls beschmutzten Wand, offensichtlich gerade angespritzt oder beschüttet...
Wer sich auch nur einmal mit dem Wiener Aktionismus der 60er Jahre beschäftigt hat, erkennt die Fotos sofort wieder, sie sind längst zu Ikonen der Avantgarde geworden. Trotzdem, irgendetwas ist anders - wie bei dem Kinderrätsel "Was stimmt nicht an diesem Bild?" Auf den zweiten Blick sieht man: der weiße Spaziergänger ist nicht Günter Brus, und er geht auch gar nicht, steht wie im Schritt erstarrt, fast puppenhaft, der Eieraufschlager ist nicht Otto Mühl und der nackte Popo behaart und eindeutig männlich, der Blutbesudelte hat mit dem jungen Hermann Nitsch keinerlei Ähnlichkeit und - na gut, zugegeben, bei der Schwarzkogler-"Mumie" ist schwer zu sagen, ob es sich um eine Fälschung oder das Original handelt. In der Tat sind diese Fotos nachgestellt: sie tragen den Übertitel "wiener blut nach motiven von..." und wurden von der Grazer Künstlergruppe g.r.a.m. hergestellt, die sich auf "appropriation art" spezialisiert hat, also die Wiederaneignung von kunsthistorisch oder medial bedeutsamen Bildern, Fotografien und jetzt eben Aktionen. Ihnen geht es - sicher neben einem gewissen Spaßfaktor - um das paradoxe Verhältnis zwischen Fotografie und Aktion: Der von den Wiener Aktionisten proklamierte Ausstieg aus dem repräsentativen (Tafel-)Bild hin zum Ereignis, zur körperlichen Aktion, bedurfte selbst wieder des Bildes, um diesen Ausstieg für die Öffentlichkeit und die Zukunft zu dokumentieren - eine Antinomie zwischen Moment und Historizität, Vergänglichkeit und Erhalt, die unauflösbar ist und die gesamte Happening-, Aktions- und Performancekunst durchzieht. Die Aktion sollte das Medium abschütteln und brauchte es doch, um den Augenblick zu überleben. Ohne Medium keine Aktion - in geschichtlicher Dimension. Dadurch verliert sie jedoch ihren Ereignischarakter: Das Medium ist die Aktion und deshalb reproduzierbar. Die Re-Inszenierungen sollten diese These, die sich seit vielen Jahren durch die Artikel zieht (Peter Weibel etc.) deutlich machen, an der Aura der Originalfotos rütteln und - bei allem Respekt - auch zur Entmythologisierung des Wiener Aktionismus beitragen. Spannend dabei ist, daß die schon von Walter Benjamin behauptete Entauratisierung der Kunst durch die Fotografie hier gar nicht greift. Im Gegenteil, man spürt die "Falschheit" dieser Bilder, auch wenn sie keine Parodie sind. Die Grenzüberschreitung, die diese Aktionen damals waren, ist ihren "echten" bildnerischen Dokumenten ablesbar, die Anspannung, manchmal Unsicherheit, die fiebrige Erregung, das ganze Chaos drumherum - all das bleibt spürbar und wird in den Originalfotos durch die Zeiten transportiert, während den "Cover Versions" die Kühle und Starrheit der Kalkulation anhaftet. Ganz deutlich sind sie keine Momentaufnahmen aus fortlaufenden, sich steigernden Aktionen, sondern reißen eine Sekunde aus dem Fortlauf, um nur sie zu re-inszenieren. Womit interessanterweise bestätigt würde, was g.r.a.m. eigentlich in Frage stellen will, nämlich die Authentizität des Mediums Fotografie. Die Repräsentation einer solcher Extremerfahrung kann offensichtlich nicht einfach durch die Repräsentation der Repräsentation ersetzt werden, sondern gerinnt dadurch zur Persiflage. Keineswegs ist es egal, wie g.r.a.m. behauptet, ob man sich heute die Haut wirklich aufschlitzt oder denselben Vorgang mit anderen Mitteln nachstellt. Das Bewußtsein des Rezipienten ist nicht so wenig wach, wie oft unterstellt, es unterscheidet sehr wohl zwischen Echtheit und Imitation. Wenngleich Brus und Nitsch sich parodiert fühlten und mit gramvoller Reaktion konterten, hat diese "Nachstellung" dem Wiener Aktionismus einen Dienst erwiesen und die leidige Frage zur Rolle des Mediums in der Aktion gelöst: obwohl die Aktionen erst durch ihre Repräsentation in Foto und Film zu Ikonen der Avantgarde geworden sind, beraubt das Medium sie nicht ihres authentischen, prozessuralen, dramatischen Charakters. Es tritt sozusagen hinter die Geschehnisse zurück. Die Macht der Aktionen erweist sich als stärker als die Medialität ihrer Dokumentation. Eine Entmythologisierung des Wiener Aktionismus kann nicht auf der medialen Schiene verlaufen, sie muß inhaltlich ansetzen.

"Zurück zur wahren Natur des Unbewußten, oder: Die gezähmte Bestie"

Um die inhaltlichen Konzepte ging es Kerstin Barnick-Braun in ihrer umfangreichen Untersuchung "Der Wiener Aktionismus - Positionen und Prinzipien", in der sie die Theorien und Methoden der Aktionisten herausarbeitet und sie im kunsthistorischen Zusammenhang von Futurismus, Dadaismus und Surrealismus analysiert, in Beziehung zu Schwitters "Merz-Kunst" und Artauds "Theater der Grausamkeit" setzt, zu Wiener Gruppe, Tachismus und Informel. Anhand der zahlreichen schriftlichen Äußerungen der Wiener Aktionisten aus der Zeit entfaltet sie detailliert und wohlgesonnen deren Konzepte: das Prinzip der Destruktion, das Verhältnis Kunst-Wirklichkeit, die Schockstrategien, die Rolle des Materials und des Körpers als Material, und vor allem den gesellschaftskritischen Impuls: So "hoffen die Vertreter der Wiener Avantgarde unverstellte, unverfälschte Wirklichkeit dort fassen zu können, wo Ordnungsstrukturen zur Auflösung gebracht oder auseinandergenommen, wo herkömmliche Denk- und Sehgewohnheiten aufgegeben werden. Allein der befreite, vorurteilslose Blick einer neuen Ästhetik des Sehens scheint das Leben in seiner deregulierten Gesamtheit zur Wirkung kommen zu lassen, in seiner nackten Präsenz, die für sich selber spricht."
Aktionismus als "Archäologie des Bewußtseins", als radikale Selbstaufklärung durch die Herauslösung des Menschen aus jeder sozialen und rationalen Verbindlichkeit - kann diese Prämisse so unkritisch stehenbleiben? Sind hier die Künstler nicht selbst in die Falle eines verqueren Rousseauismus geraten - zurück zur Natur? Die Vorstellung, daß man nur die Schalen der Zivilisation und Kultur abzuwerfen brauche, um zum wahren Kern des Menschen vorzustoßen, ist Psychoromantik. Ein trügerische Hoffnung, die den Aufbruch 1968 und vor allem die daraus folgenden Alternativ- und Aussteigermodelle wie ein roter Faden durchzieht, durchwirkt von Kapitalismuskritik und Zivilisationsmüdigkeit. Natur versus Kultur, Bauch versus Kopf, Gefühl versus Denken, diese Polarisierungen gaben zwar eine klare Befreiungsstrategie vor, waren aber leider zu simpel. Schon Ibsen wußte es besser: Sein Peer Gynt erhält die Lektion, der Mensch sei wie eine Zwiebel: auf der Suche nach seinem innersten Kern wirft er Schale um Schale ab und findet - nichts. Und von Brecht lernen wir, daß die Quelle des Gefühls genauso verschmutzt ist wie die Quelle des Denkens. Sich auf die Triebe und Partialtriebe zurückzuschrauben, als gälte es, ein armes zerquetschtes Es und ein nicht minder zusammengestauchtes Ich von einem fetten sadistischen Über-Ich zu befreien, ist trivialisierter Freud. Ich bin nicht einfach meine Scheiße (zumindest nicht mehr...), und das Über-Ich ist mehr als die Stimmen der Väter Staat und Kirche.
Ähnlich fragwürdig ist die Annahme einer animalischen Grundorganisation des Menschen, die in Extremsituationen wie Krieg zu Triebdurchbrüchen des verdrängten Materials führe. Die Aktionen, Abreaktion und Katharsis eingeschlossen, als Psychohygiene - so stellt sich das vor allem Hermann Nitsch ungebrochen für sein Orgien Mysterien Theater vor. Er stützt sich dabei auf die Katharsis-Theorien der altgriechischen Tragödie, wie er selbst nicht müde wird zu schildern, in seinen umfangreichen Schriften, zahlreichen Interviews und dem buchlangen Gespräch mit Danielle Spera, das als reich ausgestatteter Bildband erschien: "Hermann Nitsch. Leben und Arbeit". Die zahlreichen Aktionsfotos geben einen beeindruckenden Einblick in die Entwicklung und Entfaltung seines gigantischen Lebensprojekts: die Zähmung der Bestie Mensch durch Urexzess und Ekstase, durch das Eintauchen in den Mythenpool, gefüllt mit Opferblut. Ekkehard Stärk ist Nitschs Reminiszenz auf die antike Tragödie schon vor 15 Jahren wissenschaftlich auf den Grund gegangen: "Hermann Nitschs 'Orgien Mysterien Theater' und die "Hysterie der Griechen". Quellen und Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900". Er untersucht u.a. die Rezeption psychoanalytischer Mythendeutung im O.M.Theater, seine Wurzeln seit Nietzsche und Hofmannsthal und vergleicht die Ikonographie der Nitsch-Aktionen mit den Kulten und Mythen des Altertums, wobei er klar feststellt, daß die Überlieferungen der antiken Texte an Grausamkeit und Orgiastik bei weitem noch die exzessivsten Vorgänge im O.M.Theater übersteigen. Der Dionysos von Prinzendorf ist im Vergleich zu seinen Vorbildern ein harmloser Geselle. Trotzdem bleibt auch Stärk zum Schluß skeptisch: Nitsch habe "die betörenden Lehren derer, die die Bewunderung des Gewordenen nur mit der Faszination des Anfangs, die beruhigte Oberfläche des Sees nur mit seiner erregten Tiefe genießen wollten, zu einer Konsequenz gebracht, die sie nun selber wohl erschrecken würde: das Höchste im Menschen, im Blutrausch anhebend und im Blutrausch endend. Sein Werk ist grenzgängerisch, grenzüberschreitend, durch und durch provozierend - und die Konstruktion steht auf schwankendem Boden". Daß die feierlichen Tieropfer beim heutigen Großstadtneurotiker, der sein plastikumschrumpftes Schnitzel aus der Supermarkttheke nimmt, einen gewissen heilenden Schock bewirken und der naturreine Wein aus Prinzendorf das Seine dazu tut, um ein rauschhaftes Erlebnis mit nach Hause zu nehmen, kann man mit Fug und Recht annehmen. Ob der von Nitsch so beschworene Grundexzess wirklich karthatische und also therapeutische Wirkung ausübt, darf stark bezweifelt werden. Als könnte auch nur ein potentieller Mordbube im O.M.Theater durch Herumtrampeln auf Stiereingeweiden oder Blutbeschüttung geheilt werden... Hier sind die Aktionisten, ist Hermann Nitsch selbst einem Mythos auf den Leim gegangen.

"Die wunderbare Verwandlung vom Staatsfeind zur Staatskunst"

Es ist schon eigenartig, wie widersprüchlich die Rezeption des Wiener Aktionismus bis heute aussieht: Einerseits gilt er als eine der spektakulärsten Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts, mit weitverzweigten Einflüssen auf Kunst und Kultur vom Industrial bis zum Staatstheater. Manche bezeichnen ihn gar als offiziöse "Staatskunst". Andererseits ist er bis heute ein Stiefkind der Museen und wird eher noch im Ausland rezipiert als in Österreich, dessen verschlafene Hinterhofräte ihn offensichtlich noch immer als ekelhafte Unkunst und daher touristisch nicht vermarktbar befinden. Die wenigen Ausnahmen bieten einzelne ästhetische Aspekte oder die milderen Phasen von 1960-65; die wirklich "skandalösen" Aktionen sind auch heute im Museum kaum zeigbar: zuviel Sex und Gewalt, Pisse und Kot, Selbstverletzung und Psychopathie! Daß sich der Wiener Aktionismus als so wenig museumskompatibel erweist, ist ja nicht gerade sein schlechtester Zug. In diesen Aspekten bleibt er underground. Wiens Bürgermeister wird sich auch in 200 Jahren kein Aktionsfoto über den Schreibtisch hängen, auf dem Mühl den eben abgeschnittenen Hals einer Gans in die Vagina einer Frau zu stopfen versucht, oder Brus auf den Katheder der Universität seine Notdurft verrichtet. So intellektuell kann man solche Aktionen gar nicht aufbereiten, daß der visuelle Schock nicht trotzdem wirken würde. Und das bleibt auch gut so.
Daß der Wiener Aktionismus nicht "alt" geworden ist, sondern bis heute seine verstörende Wirkung ausübt, darauf geht besonders die umfangreiche Analyse von Oliver Jahraus ein: "Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins". Es ist der zweite Band des Projekts "Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden", herausgegeben von Michael Backes, Thomas Dreher, Georg Jäger und Oliver Jahraus, und immerhin gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Autor widmet sich dem Übergang von der Literatur zur Aktion, von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus, "als Ausweitung und Vertiefung eines Experiments (...), das zuerst den Mechanismen der Kommunikation, sodann der Konstruktion von 'Wirklichkeit' und zuletzt den psychophysischen Verankerungen bürgerlicher Kunst, Kultur und Gesellschaft galt." Was zeichnet sie als radikale Avantgarde aus? Welche literarischen und künstlerischen Strategien entwickelten sie? Welches "Problempotential" entfalten die beiden Gruppen, wenn man sie mit den heutigen wissenschaftlichen Instrumentarium untersucht? Und umgekehrt: Was tragen die Analysen zur Bewertung der herangezogenen Theorien bei? Welche erweisen sich als mangelhaft oder revisionsbedürftig? Gemeint sind jene linguistischen und semiotischen Verfahren, wie sie seit Saussure und Peirce entwickelt wurden, sowie dekonstruktivistische und systemtheoretische Modelle. Achtung: Die Sprache der Untersuchung erreicht zuweilen einen Grad an Entsinnlichung und Abstraktion, der ihrem Objekt, nämlich der "direkten Kunst", eigentlich nicht adäquat ist, und für den Leser zumindest gewöhnungsbedürftig ist. Im Zentrum der Analyse steht die "Präsenzqualität" der Aktion: "Sie kommt dadurch zustande, daß das Bewußtsein des Zuschauers durch das wahrgenommene Aktionsgeschehen in seinen Rezeptions- und Verarbeitungskapazitäten überfordert wird. Die Präsenzqualität der Aktion entsteht somit, weil durch die Aktion in der Aktionssituation Bewußtsein dispositioniert wird." Durch Provokation und Schock als künstlerische Strategien gelinge es den Aktionisten, das Bewußtsein als verarbeitende Instanz auszuschalten, Bewußtsein und Kommunikation zu entkoppeln, so daß die Wahrnehmung unmittelbar auf das organische System durchschlage und sich schockartig durch Ekel und Verstörung äußere. Voraussetzung dazu sei die Nicht-Repräsentationalität der Aktion, anders gesagt: Kann sich der Betrachter erst einen Reim auf das Gesehene machen, sei die Dispositionierung des Bewußtseins hinfällig. Die Aktion muß also in einer Weise mit Material und Handlung umgehen, die jedes zeichenhafte und symbolische Verständnis ausschließe: "Als Autopräsentation repräsentiert sie keine Wirklichkeit, sondern ist selbst 'direkte Wirklichkeit'."
Daß die Darstellung von Gewalt umso wirksamer und verstörender ist, je mehr sie nicht nur auf die inhaltliche Repräsentation beschränkt ist, sondern in den ästhetischen Modus eingeht, ist nicht neu und gilt für literarische Verfahrensweisen genauso. "Kunst Macht Gewalt", herausgegeben von Rolf Grimminger, setzt sich in vielfältigen Beiträgen mit dem ästhetischen Ort der Aggressivität auseinan-der, von der Antike bis zu Céline, Benjamin und Brecht, Pasolini, David Lynch und Francis Bacon. Schon Montaigne sprach von einem Stil "véhément et brusque", den er über alles schätze und bezog sich dabei auf ein Grabepitaph des römischen Schriftstellers Lucan: "Haec demum sapiet dictio, quae ferite" - diejenige Rede sei gut, die verwundet oder erschüttert. Erst der "Stoßeffekt des Stils", die "force de l'imagination" mache es möglich, die Dinge überfallartig vor Augen zu führen, womit Montaigne eine moderne ästhetische Reflexion vorwegnimmt: nämlich über den Präsenscharakter literarischer Phantasie, der in gewisser Weise dem Präsenzcharakter der Aktionskunst entspricht. Die bloße Repräsentation der Wirklichkeit in der Kunst ist zu "schwach", sie kann nie nur ein Spiegel sein, wie die Fotografie. Wenn sie nicht den Schrecken der Wirklichkeit in ihre Darstellungsform miteinbezieht, bleibt der dargestellte Schrecken blaß und seltsam irreal. Ein erschütterndes Beispiel dafür sind die Zeichnungen ehemaliger KZ-Insassen, wie beispielsweise im Katalog "Kunst und KZ. Künstler im Konzentrationslager Flossenbürg und in den Außenlagern". Ihr Wert als Dokumente des Schreckens und authentische Erinnerung ist natürlich gegeben, und doch bleibt das gezeigte Grauen oft weit weg, nahezu fiktiv. Je reduzierter, "herausgeschnittener", je direkter die Auseinandersetzung mit der Realität, desto schockierender, weil die eigene Imagination das "unfertige" Bild mit eigenen Ängsten und Identikationen füllt: Ich fließt ins Nicht-Ich ein und macht es zu einem eigenen Teil. Warum sind die riesigen Haufen von Brillen, Haaren oder Schuhen in Auschwitz paradoxerweise weniger anonym, direkter und schockierender als Zeichnungen halb verhungerter Häftlinge auf dem Appellplatz? Vielleicht weil es reale Partikel sind, die das Leben von Individuen begleitet hatten und ihre Gebrauchsspuren tragen, und weil diese Anhäufung der zurückgelassenen Dinge den gewaltsamen Einschnitt in soviele Leben besser markiert als eine furchtbare Zeichnung. Und wenn wir es nicht verlernt haben, wie ein Kind in die Schuhe anderer Menschen zu schlüpfen, um ihrem Wesen nachzuspüren, dann zieht sich das Ich die Schuhe des Anderen an und diese psychische Konfrontation löst ein größeres Entsetzen in uns aus als der Anblick eines fertigen Bildes, das den Schrecken nachzeichnet und uns als Bild (re-)präsentiert.
Die Materialien und Handlungen der Wiener Aktionisten waren natürlich keinesfalls so "sinnlos" und absurd wie das Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch (Lautréamont). Sondern sie ließen - wie der Haufen Schuhe oder Brillen - einen ganzen Schwall an vielschichtigen Bezügen und Assoziationen zu. Insofern waren sie auch nicht nur Autopräsentation, wenngleich sich das Maß an Symbolik und die Stringenz der Assoziationen von Künstler zu Künstler und von Aktion zu Aktion unterscheidet. Und wenn selbst die oberflächlichsten Boulevard-Zeitungen noch erkannten, daß z.B. auf der Bühne ein Geburtsakt vollzogen wurde, nahm diese Deutung der Aktion keineswegs die Schockwirkung. Daß dies also nicht nur an der "Präsenzqualität" liegen kann, sondern auch daran, daß es nun mal Themen gibt, die traumatische Erfahrungen und Ängste im Leben der Rezipienten zu reaktivieren vermögen - oder schlicht körperlichen Ekel auslösen. Sonst ließe sich nicht erklären, warum auch nicht-aktionistische Kunstformen in einem gehörigen Ausmaß Abwehr und Widerstand auslösen können, obwohl sie keine vergleichbare Präsenzqualität besitzen. Anja Zimmermann analysiert in ihrer hervorragenden Promotionsschrift "Skandalöse Bilder - Skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars" alle möglichen Formen anstößiger Kunst, die unter dem Begriff "Abject Art" subsummiert werden können, Werke von Bellmer bis Mapplethorpe, von Shigeko Kubota (Vagina Painting, 1965!) bis Cindy Sherman. Abject Art ist definiert als Kunst, die sich mit Ekel auseinandersetzt, insbesondere "Inszenierungen von verworfenen, also Abscheu auslösenden Materialien oder Körperzuständen, wie sie in der Kunst seit den achtziger Jahren verstärkt auftreten."
Dabei ist es nicht einfach so, daß bestimmte Bilder bestimmte Gefühle auslösen, vielmehr arbeitet die Autorin heraus, "daß die Skandale die Bilder 'auslösen'", anders gesagt: "Abject Art ist zwar auf einen Skandal, ein gebrochenes Tabu, ein verdrängtes und damit skandalöses Thema bezogen, aber es sind gerade die Skandale, die schließlich das definieren, was Abject Art ist." Es geht also um abjekte Körperbilder, um die Verdoppelung der abjekten Geste in der Ausstellungspolitik, um das "politische Abjekt" und den "Körper der Mutter", um Kunst vor Gericht, Skandale, Zensur und Verbotsmaßnahmen, den Diskurs über Kunst, Obszönität und Pornographie. Schließlich: wer zieht die Grenzen, die in der Abject Art verletzt werden, wer bestimmt den Grad an Ekel oder Obszönität, der Kunst in "Unkunst" ("ent-artete" Kunst) verwandelt. Wer bestimmt hier eigentlich, was Kunst sei?

"Der Wiener Aktionismus ist unpolitisch bis faschistisch"

Die verstörende Präsenzqualität, diese Unbedingtheit und Unerbittlichkeit der öffentlichen Aktionen, trug mit Sicherheit erheblich zum Faschismus-Vorwurf von Seiten mancher Linken bei. Die Aktionen hatten so garnichts Spielerisches wie die Happenings, das Publikum wurde nicht eingebunden, die Geschehnisse trafen die Zuschauer wie ein Schlag ins Gesicht. Politisch waren sie schwer bis gar nicht einzuordnen - kurzum: sie waren anarchisch und richteten sich gegen jegliche Ordnung, ob links oder rechts. Und außerdem schadeten sie der Linken geradezu: daß ausgerechnet der Wiener SÖS 1968 die Uni-Aktion "Kunst & Revolution" veranstaltet hatte, die zu einem der größten Kunstskandale Österreichs geriet, brachte ihm massive Vorwürfe ein, obwohl er sogleich auf Distanz zu den Künstlern ging. Die Linke liebte Dutschke, Langhans und Teufel, aber mit diesen degoutanten Wienern verband sie nicht einmal eine Haßliebe. Mit Ausnahme von Otto Mühl und seiner AAO-Kommune, die von der SexPol-Abteilung (Wilhelm Reich) als Lebensmodell der Zukunft gefeiert wurde. Linke wie Dieter Duhm haben ihre "Praktika" bei Mühl absolviert, und als in den 90ern der wegen Kindesmißbrauch verurteilte Mühl inhaftiert wurde, kam gerade von der Sektion"kritisches Bewußtsein" überraschend viel Protest und Solidarität, so als wolle der Staat unter Vorwand einen politisch unbequemen Künstler aus dem Weg schaffen. Doch Brus, Nitsch, Schwarzkogler waren - jeweils aus anderen Gründen - der Linken eher suspekt, zu individualistisch, unpolitisch, ja, bürger-lich dekadent. Daß die Körperarbeit dieser Künstler den postfaschistischen Staat am und aus dem eigenen Leib auszutreiben versuchte, konnte die Linke noch nicht erkennen. Da mußten ihr erst die Feministinnen einerseits ("das Persönliche ist politisch"), Foucault und die französische Philosophie andererseits auf die Sprünge helfen. Die Aktionisten, insbesondere Günter Brus, hatten sehr früh die Macht des Staates als ein den Menschen durchdringendes, körperorganisierendes Moment begriffen und nicht einfach als ein "Außen", gegen das man demonstrieren konnte. "Der Staatsbürger Günter Brus betrachtet seinen Körper" und sein Beitrag zu "Kunst & Revolution" erforschen das psychophysische Machtgeflecht des Staates im Individuum und sind zugleich von kynischer Provokation.
Mittlerweile hat sich auch die "linke" (oder besser: die nicht-konservative) Rezeption grundlegend verändert: die Theorien, das Vokabular, die Einsicht in die Vielschichtigkeit von Prozessen. Heute ist unumstritten, daß der Wiener Aktionismus seit Beginn der 60er Jahre den Körpercode der Nachkriegszeit gründlich dekonstruiert hat, und damit waren diese vier Künstler - neben wenigen anderen wie der japanischen Gutai-Gruppe oder der Amerikanerin Carolee Schneeman - die Ersten und also Wegbereiter für die weltweite Körperkunst in den 70ern. Sie sind die Väter der "body art" und keineswegs ein Arnulf Rainer, der erst ab 1968/69 mit seinen Automatenfotos und lediglich dekorativen Gesichtsbemalungen zu reüssieren versuchte. Der Gipfel war eine ziemlich verklemmte Bemalung dreier nackter Frauen zusammen mit Fuchs und Hundertwasser im Hinterzimmer einer Münchner Galerie, mit der man versuchte, den Wiener Aktionismus im Ausland auf modische Art einzuholen, ja, zu überholen und somit auszubooten. Auch so ein Mythos, reif zur Entlarvung: Arnulf Rainer, auch bei seinen halbwegs textilfreien Auftritten stets im Höschen, als Wiener Aktionist! Die pure Geschichtsklitterung, wenn noch heute Insider der Kunstszene wie Marina Schneede schreiben: "Einen ganz anderen Weg zur Wahrnehmung und Einbeziehung des Körpers in die Kunst gingen Arnulf Rainer, 1929 in Baden bei Wien geboren, und nach ihm Günter Brus. (...) In Rainers Serie der 'Face Farces', parallel zum Wiener Aktionismus Anfang der 70er Jahre entstanden (...)". Anfang der 70er Jahre war der Wiener Aktionismus schon zehn Jahre alt und mehrheitlich beendet: Brus' letzte Aktion war die "Zerreißprobe" 1970, Mühls letzte 1971 und Schwarzkogler tot. Nur Nitsch verfolgt sein eigenes Aktionsprojekt des O.M.Theaters unbeirrt bis heute. Schneedes Bildband "Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst" ist fulminant mit Farbbildungen ausgestattet sein, die Gliederung nach Körper, Haut, Haar, Fleisch und Blut mag interessant sein, doch ihre Darstellung bringt keine neuen Aspekte, und wenn man auf Anhieb solch kapitale Fehlinformationen wie die oben zitierten entdeckt, verliert man schnell das Vertrauen in das gesamte Unternehmen.
Die tatsächliche Zeitabfolge und Radikalität von verschiedenen Aktionskonzepten wird hingegen besonders deutlich in Thomas Drehers "Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia" (Band 3 des Projekts "Problempotential der Nachkriegsavantgarden"), der nicht einfach einen konventionellen kunsthistorischen Überblick, sondern eine vielschichtige, wissenschaftlich fundierte, vergleichende Analyse der Performancegeschichte (Schwerpunkt 60er Jahre von New York bis Wien und 70er Jahre mit Video-Closed Circuit) im Rahmen eines flexiblen Beobachtungskonzepts leistet. Er unternimmt eine Revision der Thesen zur Kunst von Niklas Luhmann und argumentiert auf dieser Basis für Intermedia Art und gegen die Rückkehr zur klassischen Abgrenzung zwischen Kunst- und Weltbeobachtung. Kunstbeobachtung = Weltbeobachtung = Eigenbeobachtung: "Durch Zerlegen in Codefragmente und Neukombinationen sowie durch Dialoge zwischen etablierten Codes und alternativen Codemöglichkeiten ermöglichen Schneeman und die Wiener Aktionisten eine Kritik an Vorcodierungen von 'Beobachtungsoperationen': Was dem Beobachter bislang als 'Natur' des Körpers erschien, kann und soll nach den Aktionen als Serie von 'Dispositiva' erscheinen, die Körpervorstellungen einseitig festlegen/disziplinieren. De- und Rekonstruktionen von `Körperzeichen' durch künstlerische Transformationen von 'Zeichenkörpern' regen Beobachter an, 'Einstellungswechsel' gegenüber früh erlernten und internalisierten 'Dispositiva' vorzunehmen und eine distanzierte, kritische Sicht auf das Internalisierte zu gewinnen." Kurzum: Politik beginnt am eigenen Leib.
Nicht nur in der Kunst, auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften bleibt der Körper seither Dauerthema. "Wieviel Körper braucht der Mensch?" (Hrsg. Gero von Randow) oder das Themenheft "Körperwelten" der medienpädagogischen Fachzeitschrift "merz" (2/2002) geben einen eher populären Überblick über alle möglichen Aspekte des sozialen und physischen Körpers heute: Der Körper als Erfindung, als "Baustelle", als Maschine, der politische und der mediale Körper usw. - und machen damit überdeutlich, daß es den "natürlichen Körper" gar nicht gibt, daß Körper immer ein kulturelles Konstrukt ist, nicht erst von Geburt an.
Die Vorstellung, man könne zu einem natürlichen Körper zurückkehren, ist ebenso illusorisch wie diejenige, man könne zum wahren unverstellten Selbst, zur "natürlichen Seele" zurückkehren. Wenn die Performancekünstlerin Valie Export 1985 schrieb: "wir müssen davon ausgehen, daß es den natürlichen Körper der Frau nicht gibt", weil "die Frau [bedeckt ist] von Bildern, von Projektionen, von Codes", so mag dies für die feministische Theorienbildung besonders wichtig sein, da sowohl die patriarchalische Sicht die Frau immer mit Natur in eins setzte, wie auch, paradoxerweise, die Befreiungsstrategien seit '68 dem weiblichen Körper seine Natürlichkeit zurückgeben wollten. Nichtsdestotrotz gilt diese Prämisse noch mehr für den männlichen Körper, der generell für seine gesellschaftliche Funktion geformt und gedrillt wurde, als Arbeits- und als Kriegsmaschine.
Der lesenswerte Reader "Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne", herausgegeben von Elisabeth List und Erwin Fiala, entfaltet das Spektrum der Körperdiskurse seit dem Beginn der Neuzeit, ausgehend von Descartes' Angriff auf den natürlichen Körper. Das Postulat vom subjektiven Ich als Zielpunkt der sozialen Internalisierung (Freud, Elias) wird mit phänomenologisch orientierten Theorien (Plessner, Merleau-Ponty) konfrontiert und durch die kybernetische Sicht des Körpers als Informationsmaschine relativiert. Heute, an der Schwelle zum digitalen Zeitalter, wird das Ende der Körperlichkeit durch die endgültige "Eroberung" (Virilio) des Körpers zelebriert. Die Körperbilder reichen von spirituellen und rituellen Einholungsversuchen der vermeintlich verlorenen Leib-Geist-Einheit, über die äußere Modellierung zu einem ästhetischen Körper nach Maß (Körper als Simulacrum, Fetisch und Kapital zugleich) bis zur Konterkarierung des perfektionierten Körpers durch zelebrierte Häßlichkeit, Verstümmelung und Verletzung, des Körpers als Schauplatz (lustvoll) erlittenen Schmerzes. Fraglich ist, inwieweit diese Modelle wirklich die Kraft der Rückeroberung verlorener Körperlichkeit besitzen, oder aber nur erneute Beweise einer variierten Körperzurichtung sind. Während sich der ästhetisch zugerichtete Körper affirmativ zu den gesellschaftlichen Normen verhält, verdichten sich am ehesten im Schmerzritual die Zeichen einer Transformation, Entgrenzung. Wie sich Günter Brus damals Schnitte zufügte, "um zu sehen, wie's innen aussieht", um Öffnungen vom Innen zum Außen zu schaffen, so perforieren heute viele Leute ihre Haut, um sich zu spüren, auch als vergängliches Wesen, und sich selbst neu zu definieren: "Der bisher gewohnte Leib, das bisher gewohnte Bild von sich selbst wird im Ritual des Schmerzes symbolisch eliminiert. Der Schmerz ist das Zeichen des Überganges, der nicht mehr die Schwelle von einem sozialen Dasein in das nächste markiert, sondern in erster Linie eine auf das eigene Sein gerichtete Bedeutung als eine ontologisch-symbolische herstellen und sichern soll", so Elisabeth Katschnigg-Fasch in ihrem Beitrag zur Ethnographie postmoderner Körper: "Der Schrecken bringt erst das Spüren des eigenen Körpers; der Schmerz ist der Übergang zum gelobten Land. 'Wir erreichen die Ekstase nicht, wenn wir nicht - und sei es nur in der Ferne - den Tod, die Vernichtung vor Augen haben' (Georges Bataille). Bild und Selbstbild, die Zeichen der äußerlichen Körperlichkeit und eines inneren Bewußtseins verschmelzen in animistischer Weise im Ritual des Schmerzes für immer zu einem."

"Die Aktion als Passionsspiel"

Anders als Bataille, bewerten die beiden Wiener Schriftsteller Vintila Ivanceanu und Josef Schweikhardt (auf den Spuren Werner Hofmanns) in ihrem Essayband "Aktionismus all inclusive" die Schmerzkultur nicht als Strategie der Selbstbefreiung, sondern vielmehr als christologisches Relikt und parareligiöses Opfer: "Im Protest schmarotzt das Angegriffene noch immer mit. Es stirbt nicht, weil es abgelebt scheint und abdankt, sondern lebt, weil es durch Protest und als imme rwiederkehrendes Zitat künstlich am Leben gehalten wird: Selbst der Diskurs ist eine Art Frischhaltefolie." So unterschiedliche Performer wie die Wiener Aktionisten, Beuys, Christo oder Flatz unterhielten eine pseudosakrale Neuproduktion der Erlöserfigur. "Der Befreiungsschrei läßt noch die Stimmlage des alten Subjekts erkennen, das zwei Jahrtausende lang durch den realen Schmerz und kompensierend durch das größenwahnsinnige Ich-Konstrukt als Abklatsch eines pathetischen Gott-Konstruktes geprägt war, nämlich der Imitatio Christi." Die meisten Aktionskünstler spielten das klassische Stück des christlichen Repertoires: den Märtyrer in seiner Schmerzerfülltheit, der sich für uns alle opfere, uns auf seine Kosten eine (therapeutische) Erlösung schenke. Dabei sei der Aktionismus von einem suggestiven Machtanspruch auf alleinseligmachende Kunst erfüllt, deren Devotionalien dem gläubigen Bildungsbürger wie heilige Kunstgebeine dargeboten würden. Nun, die Heiligen- und Märtyrerposen von Beuys und anderen mögen tatsächlich als aufgewärmtes Christusbild empfunden werden, und gewiß haben die Autoren mit ihren entlarvenden Analysen bestimmter Aktionen wie "I like America..." recht, in der Beuys sich nur scheinbar einem Kojoten als gleichberechtiger Partner im Käfig darbot. Tatsächlich muß gerade in der Aktionskunst ein gutes Stück Entmythologisierung geleistet werden, um keine parareligiösen Ikonen entstehen zu lassen. Andererseits schütten die Autoren das Kind mit dem Bad aus. Natürlich kann man die Kunstgeschichte nach grausamen Bildern durchblättern, die zumeist dem religiösen Kontext entstammen, und sie den Aktionen heutiger Künstler zuordnen - womit lediglich bewiesen wäre, daß Gewalt, Verletzung, Tod existentielle Dauerbrenner sind. Walther K. Langs Untersuchung "Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei von Caravaggio bis Giordano" gibt, wenn auch zeitlich und örtlich stark eingegrenzt, genug Beispiele von Verletzungen und Torturen, zu denen man aktionistische Äquivalente suchen könnte. Dennoch hat Valie Export ganz andere Ziele und Motivationen für ihre Selbstverletzungen als etwa die Heilige Agathe, Günter Brus' "Zerreißprobe" hat mit dem Martyrium des Heiligen Bartholomäus nichts zu tun. Auch die sadistischen Regungen der Sammler und Betrachter, die durch solche Gemälde bedient wurden, decken sich nicht mit den Motiven des Aktionspublikums. Und natürlich steht die Grausamkeit der in der neapolitanischen Malerei ungewöhnlich offen zur Schau gestellten Folterqualen und Hinrichtungen von Märtyrern in keinem Verhältnis zu den vielen fiktiven und wenigen tatsächlichen Selbstverletzungen im Aktionis-mus. Und schließlich handelt es sich bei den fraglichen Aktionen um freiwillige Schmerzzufügungen, die Künstler verstehen sich und ihre Handlung in der Regel keineswegs als Opfer, sondern versuchen im Gegenteil jegliche Fremdbestimmung über ihren Körper abzuschütteln. Sie sind weder Masochisten noch Sadisten, und manche Aktionen und Performances wirken auf das Publikum sehr viel schockierender, als sie eigentlich waren. So beispielsweise die Aktion "Eros/ion" 1971 von Valie Export, in der sie sich nackt auf Glasscherben legte und darüber wälzte. Das Publikum bat sie entsetzt, die Aktion abzubrechen, de facto war die Verletzungsgefahr äußerst geringfügig. Andrea Zell beschreibt in "Valie Export - Inzenierung von Schmerz", daß die Künstlerin ganz bewußt Selbstverletzungstechniken einsetzte, die sehr viel dramatischer wirkten als sie waren. Die Autoaggression wurde nicht um ihrer selbst willen eingesetzt, sondern um den viel größeren Schmerz der Frau an der Gesellschaft zu repräsentieren.
Auch hat sich die Künstlerin selbst (Aktion "Kausalgie", Teil 1, 1973) ausdrücklich auf Initiationsriten bezogen, mit denen sie den ritualähnlichen Charakter, die Darstellung eines Übergangs oder Identitätswechsels, sowie die Verletzung des Körpers verbindet. Es ist jedoch eine "rebellisch paradoxe Initiaton" (Andrea Zell), die sie nicht in eine gesellschaftliche Ordnung hinein- sondern herausbegleitet. Die Normen sollen nicht in die Haut eingeschrieben, sondern sichtbar gemacht, überschrieben, ausgelöscht werden. Ohne den Begriff der Initiation läßt sich Aktionismus nur halb verstehen. Aber das ist ein eigenes Thema...

Coda: Die Maschine als Wunschkörper - Der Körper als Wunschmaschine

Die Verbindung und Ausweitung des Körpers mit und durch Maschinen gehört zu den ältesten Träumen der Menschheit. Freud entwickelte die These, wonach es Körperphantasien seien, die in die Konstruktion aller technischen Apparate eingehen. Motoren, Fotoapparat, Telefon... mit allen Maschinen "vervollkommnet der Mensch seine Organe (...) Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt." (1930, zit.von Heinz Weiß in: Geträumte Maschinen, Luzifer-Amor Nr. 8/91). Darüberhinaus seien alle komplizierten Maschinen und Apparate der Träume Genitalien, und zwar männliche, denn "der imposante Mechanismus der männlichen Geschlechtsorgane" führe dazu, "daß alle Arten von schwer zu beschreibenden komplizierten Maschinen Symbole desselben werden." Der Mensch, vielmehr der Mann, träumt sich zur Maschine hin, beflügelt mit ihr seine Omni-Potenz-Phantasien, dehnt durch die Maschine seinen Körper in den Raum hinaus, kanalisiert seine Wunschströme in maschinelle Produktionsströme. Diese "Männerphantasie" wurde, zusammen mit der alten Männerrolle, seit 1968 immer wieder in Frage gestellt (und von Klaus Theweleit gültig analysiert) . Betrachtet man den Wiener Aktionismus unter diesem Aspekt, so ist bemerkenswert, daß keinerlei Maschinen oder elektrische Geräte verwendet wurden, die Verletzungsgeräte waren einfachster, geradezu archaischer Art wie Axt, Nägel, Rasierklinge. Die Wunschströme wurden wieder zu Körperströmen, die Projektionen auf maschinelle "Prothesen" wurden zurückgenommen. Das wäre eine Lektion für den heutigen Zeitgeistkörper, der sich weniger über Maschinen als über Medien ausdehnt, entsprechend der Verwandlung der Industrie- in die Informationsgesellschaft.
Darauf reagieren ebenso zukunftsschwanger wie fantastisch die Körperphantasmagorien von Bea Emsbach: menschliche Wesen wie aus ferner Zukunft, Mutanten mit eigentümlichen Anatomien, menschliche Hasen, hybride Gestalten aus Pflanze und Mensch, miteinander verbunden durch Adern, Schläuche, einem System kommunizierender Röhren, mit deren Hilfe sie ihre Körperströme tauschen, sich gegenseitig nähren, die sie aber auch aneinanderketten. Manche tragen ihr Aderngeflecht auf der Haut, wieder andere sind mit plazentaartigen Gewächsen verbunden. Einige Körper scheinen von Plasma umwabert, andere wieder sind bandagiert und an Apparate angeschlossen. Körperlose Babyköpfe sind miteinander verwachsen wie ein Zellhaufen, überhaupt geht die Reproduktion sehr pflanzlich vonstatten: aus Maiglöckchenblüten wachsen Embryonen hervor, an Blütendolden wachsen Köpfchen - die Drôlerien des mittelalterlichen Stundenbuchs und die Wurzelkinder von Sybille Olfers lassen insgeheim grüßen. Die anthropomorphe Welt des Kinderbilderbuchs verbindet sich mit Science-Fiction-Kopfgeburten von Moebius, Jodorowsky und anderen Comiczeichnern der "ligne claire"-Richtung. Abgesehen von einzelnen Objekten und Installationen sind es allesamt Kolbenfüllerzeichnungen mit roter Tinte, die in dem Katalog "Bea Emsbach - Beutezüge im Bodensatz der Wissenschaften" versammelt sind. Launen der Evolution oder Erzeugnisse aus dem Genlabor? Waren es gestern noch Visionen vom Maschinenmenschen, so dienen heute genmanipulierte Mischwesen als Körperbilder der Zukunft. Bevor der "l'homme machine" diese weitere Modifikation erfährt, legten die Wiener Aktionisten nochmals die Basis Körper in provozierender Vereinfachung vor, mit Brus' Worten: Oben rein und unten raus, das ist die Kunst.

 

 

[g.r.a.m.: wiener blut nach motiven von... ; Triton Verlag Wien 2002, ISBN 3-85486-125-7, Euro
Kerstin Barnick-Braun: Der Wiener Aktionismus. Positionen und Prinzipien; Böhlau Verlag Wien/ Köln/ Weimar 1998, ISBN 3-205-98920-1, Euro
Hermann Nitsch - Leben und Arbeit, aufgezeichnet von Danielle Spera; Verlag Christian Brandstätter, Wien 1999, ISBN 3-85498-005-1 (Normalausgabe), Euro
Ekkehard Stärk: Hermann Nitschs 'Orgien Mysterientheater' und die "Hysterie der Griechen". Quellen und Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900; Wilhelm Fink Verlag, München 1987, ISBN 3-7705-2413-6, Euro
Oliver Jahraus: Die Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dispositionierung des Bewußtseins; Wilhelm Fink Verlag, München 2001, ISBN 3-3-7705-3451-4, Euro
Rolf Grimminger (Hrsg.): Kunst Macht Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität; Wilhelm Fink Verlag, München 2000, ISBN 3-7705-3456-5, Euro
Hans Simon-Pelanda: Kunst im KZ. Künstler im Konzentrationslager Flossenbürg und in den Außenlagern; Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2001, ISBN 3-89144-333-1, Euro 12,90
Anja Zimmermann: Skandalöse Bilder - Skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars; Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-496-01226-9, Euro 49,90
Marina Schneede: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst; DuMont Verlag, Köln 2002, ISBN 3-8321-5438-8, Euro 29,90
Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia; Wilhelm Fink Verlag München 2001, ISBN 3-7705-3452-2
Gero von Randow (Hrsg.): Wie viel Körper braucht der Mensch? Standpunkte zur Debatte; edition Körber Stiftung, Hamburg 2001, ISBN 3-89684-120-3, Euro 12
Körperwelten; Themenheft merz (medien + erziehung); 46.Jg. 2/2002; kopaed, München, Euro 5
Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.): Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne; Passagen Verlag, Wien 1997, ISBN 3-85165-269-X, Euro 22
Ivaceanu/ Schweikhardt: Aktionismus all inclusive; Passagen Verlag, Wien 2001, ISBN 3-85165-510-Euro 9,18
Walther K. Lang: Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei; Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-496-01240-4, Euro 48
Andrea Zell: Valie Export - Inszenierung von Schmerz: Selbstverletzung in den frühen Aktionen; Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-496-01224-2, Euro 50,11
Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Themenheft "Körperwahrnehmung", 4. Jg., 8/1991, edition diskord Tübingen, ISSN 0933-3347, ca. 15 Euro
Bea Emsbach - Beutezüge im Bodensatz der Wissenschaften; Hrsg. Institut für moderne Kunst, Nürnberg 2002, ISBN 3-933096-92-8, Euro 30]fm