WIENER AKTIONISMUS

AKTIONISMUS / KÖRPERKUNST

Franziska Meifert
(publ. in: testcard # 14/2005)

 

PETER NOEVER (Hrsg.)
Otto Muehl - Leben Kunst Werk _
MUSEUM MODERNER KUNST WIEN (Hrsg.)
Otto Muehl – Aspekte einer Totalrevolution
OTMAR BAUER
1968 – autobiographische notizen
NEUE GESELLSCHAFT FÜR BILDENDE KUNST (Hrsg.)
legal/ illegal – Wenn Kunst Gesetze bricht/ Art beyond law
PETER NOEVER (Hrsg.)
Evi Untitled
PATRICIA DRÜCK/ INKA SCHUBE (Hrsg.)
Soziale Kreaturen – Wie Körper Kunst wird
CLAUDIA PANTELLINI / PETER STOHLER (Hrsg.)
Body Extensions
TERESA MARGOLLES
Muerte sin fin

Auch die Körperkunst bekommt ihre Falten... Wien brachte 2004 ein Gedächtnisjahr zum Wiener Aktionismus hinter sich. Otto Muehl erhielt seine Retro im Wiener Museum Angewandter Kunst (MAK), nachdem Direktor Noever ihm nach der Haftentlassung 1998 schon die Gefängnisbilder ausstellte. Gleichzeitig fand eine Retrospektive von Günter Brus in der Wiener Albertina statt, und damit der eine Wiener Aktionist dem anderen den Rang ablaufe, wurde der Muehl-Katalog noch ein deutliches Stück größer und dicker als der umfängliche Brus-Katalog. Der wieder in einer Kommune lebende Muehl, der jetzt peinlich schlechte Pseudo-Aktionen medial aufpeppt mit digitaler Bearbeitung, und mit Bildern purer Scheiße wohl als ältester agent provocateur de l’art ins Guinessbuch der Rekorde eingehen will, schindet am meisten Eindruck beim oberflächlichen eventsüchtigen Szene-Publikum, studiert man das mediale Echo. Otto Muehl – Leben / Kunst / Werk. Aktion Utopie Malerei 1960-2004, gestylt mit ausgestanztem Titel, zeigt noch mal alles im Großformat, von den ersten konventionellen Ölbildern der 50er, den Gerümpelplastiken und Materialbildern Anfang der 60er hin zu den Materialaktionen, die einzeln beschrieben und mit Filmstills dokumentiert werden, bis zur AAO-Kommune, unterteilt in eben jene Kategorien von Aktion, Utopie, Malerei, und mit Textbeiträgen von Bettina M. Busse, Peter Gorsen, Peter Turrini, Michel Giroud, Eric Alliez und immer wieder Muehl selbst. Die Chronologie der Kommune von Karl Iro Goldblat ist erstaunlich klarsichtig bezüglich der Fehlentwicklungen: „Parallel zu den verschiedenen Strömungen der Alternativbewegung formierte sich im nördlichen Burgenland eine Stammesgesellschaft, die mehr den Gesetzen einer Pavianhorde als den emanzipatorischen Bewegungen ihrer Zeit gehorchte. So ging die aufstrebende Schwulenbewegung an der ausschließlich heterosexuell orientierten Sexualmentalität der KommunardInnnen vorbei, denen es nicht um Emanzipation, sondern um Evolution ging. Homosexualität galt als ‚infantile Schädigung’. Der ideologische Wurm, der sich später in der Gruppe festsetzen sollte: ‚Das Ganze ist wichtiger als das Einzelne’, mischte hier bereits im Höhenflug der Evolution mit.“ Noch kritischer geht’s nicht in einer Retro-Würdigung. Die Muehl-Texte sind teils historisch, teils aktuell und letztere unterscheiden sich nicht vom oberlehrerhaften Geschwafel in seinem Gefängnistagebuch. Dass er selbst die schwachen Ergebnisse seiner jüngsten „Electric Painting“-Filme begreift als „summe aller meiner aktionistischen, malerischen und überhaupt meiner kunsterfahrung. man könnte von totaler selbstdarstellung sprechen“, wirft einen weiteren Schatten auf diese. Otto Muehl hat überhaupt nie etwas anderes als Selbstdarstellung gemacht, weniger als „Selbstanalyse“, als im Sinne eines Kindes, das sich besonders auffällig benimmt, um Aufmerksamkeit zu erregen und im Mittelpunkt zu stehen. Und noch immer ist er ein großes Kind, das wieder aufs Leintuch scheißt und damit herumschmiert (was nur als Klischee typisch kindlich ist). Wer also vom tyrannischen Clown des Wiener Aktionismus noch nichts oder wenig kennt, ist mit diesem Katalog gut bedient, da er einen Überblick über sein Gesamtwerk gibt, inklusive breiter Bibliographie. Wer sich nur für die Aktionen interessiert, ist mit den Wiener Aktionismus-Katalogen vom Ritter Verlag 1989/90 hinreichend bedient.
Auch das Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien will am Aktionismus-Revival partizipieren, nimmt spät aber doch noch die Verantwortung wahr, die (längst historische und vom Kunstmarkt abgesegnete) Kunst in der eigenen Haustür zu sammeln. Ein Aktionismusarchiv wird aufgebaut und soll ein „Kompetenz-Zentrum“ für alle Forschenden werden. Ausschlaggebend war die Erwerbung der Archivalien, Fotos und einiger Werke der Sammlung Friedrichshof, also der ehemaligen Muehl-Kommune, nachdem dieses unsystematisch zusammengewürfelte Konglomerat durch einen Wiener Galeristen über zehn Jahre lang wie sauer Bier angeboten wurde und – so bleibt zu vermuten – bessere Stücke schon herausgepickt waren. Zur ersten öffentlichen Präsentation des Archivbestandes legt das Museum die Publikation Otto Muehl. Aspekte einer Totalrevolution vor, mit vier kürzeren Beiträgen (dt.-engl.) und wenig neuem Bildmaterial. Dass aus dem Aktionismusarchiv nur Muehl präsentiert wird, ist fragwürdig, aber wahrscheinlich damit erklärbar, dass von ihm mit Abstand das meiste Material vorhanden ist, während das der anderen Aktionisten vergleichsweise spärlich ist.
Ebenfalls zu Wort gemeldet hat sich Otmar Bauer, seinerzeit im Umkreis des Wiener Aktionismus und an mehreren Gemeinschaftsaktionen und –filmen beteiligt, aber auch mit eigenen Aktionen/ Filmen hervortretend, Mitglied der sogenannten „Österreichischen Exilregierung“ in Berlin ab 1969, neben Brus, Rühm, Wiener etc. Dann am Aufbau der AAO-Kommune beteiligt und Kommunarde fast bis zum bitteren Ende, das er mit herbeiführen half. In einer Art Tagebuch, 1968 – autobiographische notizen, kommentiert er wiener aktionismus, studentenrevolte, underground, kommune friedrichshof, mühl ottos sekte, von 1965 bis zur Auflösung der Kommune 1989. Was immer man von ihm als Künstler halten mag, seine Aufzeichnungen sind authentisch und er nimmt kein Blatt vor den Mund, auch nicht bezüglich der eigenen Situation. Da kommt so mancher kleinbürgerlicher Mief bei den ach so revolutionären Künstlern zutage, Konkurrenzdenken, neurotische und psychopathische Züge, durch Alkohol und Drogen verstärkt, werden sichtbar, vor allem Otto Muehls Profil gewinnt auch bei Bauer zunehmend hässliche und brutale Züge. Im Künstler-Underground war und ist wohl nicht alles so rosig, wie es von außen und im romantisierenden Rückblick meist aussieht. Genauer gesagt war das ein ziemlich kaputter Haufen, der da Kunst und Leben im Handstreich zusammenbringen wollte.
„Die Forderung der Avantgarde, die Kunst in das Leben zu überführen, meint zunächst nur die Vitalisierung der Kunst und die Ästhetisierung des Lebens. Wenn Kunst und Leben in eins gesetzt werden, kann ein explosives Gemisch entstehen“, meint Eckhard Gillen in seinem Beitrag zu dem Reader legal/illegal – Wenn Kunst Gesetze bricht /Art beyond Law. Oft genug in der Geschichte führte die Forderung der Vereinigung von Kunst und Leben zu faschistoiden Phantasien vom Übermenschen oder zur Legitimation von Gewalt- und Terroraktionen. Deshalb steht im Blickfeld dieses Buchs gerade nicht das „Kunst-Leben-Projekt“, sondern eher das provokante Eindringen von Kunst in die Realität, Aktionen, „die durch ihre unkonventionellen politischen Statements in die rechtliche Grauzone zwischen legal und illegal eingetaucht sind“, anarchistische Ausdrucksformen, die auf politische oder gesellschaftliche Situationen reagieren und sich einmischen. Dabei gehe es nicht um Gewalt oder Illegalität um ihrer selbst willen, sondern um die künstlerische Freiheit, bestimmte Grenzen zu überschreiten, will man auf Missstände hinweisen, die sehr viel mehr verletzen als gesellschaftliche Regeln. Es geht also um Subversion, um zivilen Ungehorsam. Als eigene Textschiene und roter Faden läuft unten auf den Buchseiten eine Chronologie mit, die eine Auswahl solch subversiver Handlungsformen im 20.Jht aufführt, vor allem aus den „Sparten“ Surrealismus, Futurismus, Situationismus, Happening, Fluxus, von Franz Jung, Luis Buñuel, Louis Aragon, Fritz Teufel, Macunias, Jochen Gerz, bis zum bayrischen Liedermacher Hans Söllner. Und: „Das vorliegende Buch ist ein Ideen-Handbuch der Guerilla-Art. Nachahmung wird empfohlen.“!
Die Körperkunst ist gealtert. Kommen ihre Falten daher, dass sie ihre Haut zu Markte getragen hat? Oder daher, dass sich Staatstheater und Kunstphotographie, Film und Werbung und wer sonst noch Jahrzehnte an ihr gerieben haben? Und so fragt man sich tatsächlich bei so manchen neuen Bemühungen: So, what’s new?
Immer auf’s Neue entdecken Frauen öffentlich ihr Geschlecht und ihre Lust, wie gerade die amerikanische Fotokünstlerin und Filmemacherin Evi Quaid, die, ebenfalls im Wiener MAK, ihre zu Riesenformat aufgeblasenen Evi Untitled-Fotos ausstellte: Sie selbst, mal im Negligé, mal im Pelzjäckchen, mal daumenlutschend am Rand einer Badewanne sitzend und ihr gepierctes blondes Vötzchen zeigend (oder vielmehr nicht verdeckend). Museumsdirektor Peter Noever zeigt sich im Interview des kleinen Katalogs begeistert von der vorgeblichen Natürlichkeit und frischen Offenheit der Künstlerin, die zu ihren Fotos bemerkt: „Für mich ist die Penetration das Wichtigste am weiblichen Körper. Was ich eigentlich zu sagen versucht habe, ist, dass die Penetration das ist, worauf es ankommt; alles andere ist Blödsinn. Wohin führt denn alles andere? Es führt dahin.“ Warum zeigt sie’s dann nicht? Vielleicht weil Jeff Koons mit seiner Cicciolina das schon vorher gemacht hat... So, what’s new? Selten so ein eindimensionales, dämliches Statement von einer Künstlerin gehört - that’s new. Dagegen ist Annie Sprinkle der Ausbund einer intellektuellen Feministin.
Weiterhin lichten Fotografen den Körper im urbanen Raum oder in der Landschaft ab, entdecken ihn als soziale Plastik oder Teil der Natur. Soziale Kreaturen – Wie Körper Kunst wird/ Social Creatures – How Body becomes Art war eine Ausstellung 2004 im Sprengel Museum Hannover, mit Foto- und Videoarbeiten von Francis Alÿs, Max Baumann, Pierre Bismuth, Ghazel, Ben Judd, Boris Mikhailov, Erwin Wurm u.a., teils erstmals in Deutschland vorgestellten Künstlern. Sie „fragen nach veränderten Wahrnehmungsmustern sowie nach veränderten Vorstellungen von zwischenmenschlicher Intimität und erotischen Obsessionen ...“ Zu sehen sind Akte in der Natur, Menschen in der Stadt, in der Intensivstation des Krankenhauses, eine Frau im Tschador, am originellsten sind Carlos Naders „Serial Kisser“ und Erwin Wurms absurde „One Minute Sculptures“, die der Körper im Raum mit Gegenständen einzunehmen hat, schief, balancierend etc. Sonst wenig, was den Betrachter bewegt oder innehalten lässt. Die Fotos des Spaniers Santiago Sierra zeigen von ihm engagierte Prostituierte, die sich für den Preis einer Heroindosis eine waagrechte (von einer Frau zur nächsten reichende) Linie auf den Rücken tätowieren ließen, oder einen Obdachlosen in Helsinki, der gegen Bezahlung zwei Wochen lang in einem Erdloch hauste. Auch eine Art von Exploitation! Ganz so einfach wird Körper nicht jederzeit zu Kunst, und eine soziale Kreatur ist er sowieso. So, what’s new? Dass Fotografien mit Menschen als Körperkunst definiert werden, that’s new.
Interessanter, vielleicht weil thematisch eingegrenzter, ist der Katalog der Ausstellung Body Extensions. art, photography, film, comic, fashion, die im Museum Bellerive in Zürich gezeigt wurde. Der Wunsch nach dem idealen Körper ufert schon in der Realität zu skurrilen Phänomenen aus, nicht nur die unzähligen und unsäglichen Schönheitsoperationen an allen Körperteilen, wo gestreckt, geliftet, gefüllt und geformt wird, auch im Alltag werden Fingernägel, Wimpern und Haare verlängert, die Beine durch Stöckel und High Heels optisch gestreckt, die Busen in Push-ups oder Press-downs gesteckt, die Taille ins Mieder gepresst, der fehlende Hintern durch gepolsterte Spezialslips vorgetäuscht – wir sind da wirklich nicht besser als die Jahrhunderte vor uns mit ihren Korsetts, Culs de Paris, Reifröcken, Tornüren und Perücken. Dass die Fiktion in Kunst, Fotografie, Comic sich angesichts solcher artifiziellen Körperausdehnungen im Alltag nicht lumpen lässt und dem noch gehörig eins draufsetzt ist klar. Ob Stelarc mit seinen roboterartigen Zusatzarmen und dem „Exoskeleton“, Irene Maags Stelzengänger, Rebecca Horns Verlängerungen von Armen und Fingern, Annie Sprinkles „Anatomie eines Pin-Up-Fotos“ (endlich, hier ist sie!) oder Victorine Müllers „Häutungen“ – sie alle spielen, mal ernst, mal ironisch mit dem Dauerversuch des Menschen, über sich selbst hinauszuwachsen. Witzig auch Isabelle Steiners Fotos “in & out –Jelena anziehen“, die BH und Mieder über der anderen Wäsche sichtbar trägt, und Angelo A. Lüdins Fotomontagen von Körperteilen, die noch entfernt an Bill Brandts exzentrische Fotografien mit perspektivisch verzerrten Körperansichten erinnern, sind beindruckende Beispiele für das weite Feld der modernen Körperblasphemien. So, what’s new? Nichts wirklich, aber der Prozeß der Auseinandersetzung mit dem eigenen und gesellschaftlichen Körperbild geht weiter. Und er muß auch weitergehen, denn die Häufigkeit gestörter Körperbilder, also psychischer Störungen, in denen der eigene Körper wie ein äußeres Objekt erlebt und in der Phantasie sowie in Wirklichkeit destruktiv behandelt wird, nimmt drastisch zu. Die Krankheitsbilder reichen von Hypochondrie und Depersonalisation über die Eßstörungen bei Anorexie bis hin zu den verschiedenen Formen der Selbstbeschädigung und Hervorbringung artifizieller Krankheit. Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens ist ein Reader, herausgegeben vom Psychoanalytiker Mathias Hirsch, der diesen Persönlichkeitsstörungen nachgeht. Die Beiträger untersuchen diese typisch modernen Identitätsstörungen anhand konkreter Fallbeispiele und analysieren ihre Ursachen und Auslöser. Sowohl dieser, wie auch ein weiterer aufschlussreicher Band Der eigene Körper als Symbol? Der Körper in der Psychoanalyse von heute machen klar, dass der Körper als Thema der Kunst vielleicht nichts Neues mehr ist, aber ein unverzichtbarer Beitrag, um der Entfremdung des modernen Bewusstseins vom eigenen Leib entgegenzuwirken. Wenn wir uns in unserer eigenen Haut nicht mehr zu Hause fühlen, dann auch nicht mehr auf dem blauen Planeten. Dann wird die Selbstdestruktion zum globalen Phänomen.
Der Tod als Kunst, Leichen als Kunstkörper? Als eine Art memento mori, und als Erinnerung an die namenlosen Toten, versteht die Mexikanerin Teresa Margolles ihre Arbeit, die im vergangenen Jahr im Museum für moderne Kunst in Frankfurt ihre erste große Einzelausstellung (samt dickem Katalogbuch) erhielt: Muerte sin fin. Margolles arbeitete früher als Assistentin in einem der Leichenschauhäuser von Mexico City, in dem vor allem Mord- und Drogenopfer landen, anonyme Tote, Obdachlose, Junkies, Sozialfälle, für deren Beerdigung niemand aufkommen will. Sie ist Mitbegründerin der Künstlergruppe SEMEFO (Gerichtsmedizinischer Dienst) und arbeitete zwischen 1990 und 1998 in diesem Kollektiv, bis sie sich herauslöste und ihre Arbeit allein fortsetzte. Nach wie vor „partizipiert“ sie an der Arbeit im Leichenschauhaus, das heißt, sie darf sich dort, mit allen Genehmigungen, das „Material“ für ihre Kunst holen, sprich Fotos, die sie ausstellt, Leichenwaschwasser, das dann (natürlich desinfiziert) im Museum als Seifenblasen oder Regentropfen oder „Dampfbad“ auf die Besucher tropft, Betonbänke für Besucher, die mit Leichenwasser fabriziert wurden, „Aquarelle“ aus Papieren die durch Leichenwasser gezogen wurden und an denen die organischen Stoffe wie Blut und Fett hängen bleiben, Leichenfett, mit dem sie minimalistische Bilder malt, Gipsabgüsse von Leichen mit Körpersäften und Hautpartikeln, in Beton gegossene Föten. Ihr Motiv ist ehrenwert, die Aufmerksamkeit für die Gewalt der sozialen Wirklichkeit zu wecken, eine Art „Liebesdienst“ an den anonymen Toten zu verrichten, „feinstofflichen“ Kontakt zwischen Toten und Lebenden herzustellen, die Lebenden vom Tod wortwörtlich „berühren“ zu lassen. Aber hat diese Art der Präsentation nicht irgendwie den Charakter einer Geisterbahn? Bestenfalls ein schaurig-schöner Schock, der die Leute froh sein lässt, dass sie leben – und vielleicht empfinden sie ein paar Stunden nach dem Ausstellungsbesuch ihr Leben tatsächlich ein wenig intensiver oder bilden sich’s wenigstens ein, während sie in der Cafeteria ihren Cappuccino schlürfen und noch mal im dicken Katalogbuch blättern (warum der weiße Schutzumschlag sich so ekelhaft klebrig-samtig anfühlt, bleibt unklar und ist im Kontext zusätzlich geschmacklos). Interessant wäre zu wissen, wie diese Arbeit in Mexico selbst ankommt, ein Land, in dem der Tod eine ganz andere Präsenz hat als bei uns – man denke nur an das mexikanische Totenfest, das ja mehr ist als Folklore? Ob der „Erfolg“ von Margolles in Europa sozusagen ein Gradmesser für die Abstraktion des Todes, für die fast lückenlose Ausgrenzung von Sterben und Tod in unserer Gesellschaft ist? Oder nur ein spekulatives Horrorkabinett, eine Art reality-TV mit Kunstcharakter? Ändert diese Kunst irgendetwas am Verhältnis zum Tod in unserer Gesellschaft? Wird deshalb ein Sterbender weniger ins Krankenhaus abgeschoben, damit man ja keinen Toten im Haus hat? Im Ernst: Mit ihrem Buch Vom Umgang mit der Leiche hat die populäre Journalistin Carmen Thomas wahrscheinlich mehr bewirkt als eine derartige Kunstausstellung jemals vermöchte. Solange wir mit dem Sterben und dem Leichnam von Freunden und Angehörigen nicht menschenwürdiger und menschlicher umgehen, was sollen wir da von den anonymen Toten aus Mexico City lernen? Ihr Tod wird zur Seifenblase, die uns im Moment des Zerplatzens zwar unangenehm berührt, aber die Berührung bleibt äußerlich, abwaschbar, folgenlos. Margolles Kunstausstellung ist ein weiterer Event im Veranstaltungskalender einer saturierten Gesellschaft, der ihre eigenen Obdachlosen und Gewaltopfer ziemlich schnuppe sind. So, what’s new?

 

 

[Peter Noever (Hrsg.): Otto Muehl – Leben Kunst Werk. Aktion Utopie Malerei 1960-2004; Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2004, 415 S. brosch., ISBN 3-88375-680-6, € 44
Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien / Aktionismusarchiv: Otto Muehl – Aspekte einer Totalrevolution; Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2004, 121 S. brosch., ISBN 3-88375-805-1,€ 22
Otmar Bauer: 1968 – autobiographische notizen zu wiener aktionismus, studentenrevolte, underground, kommune friedrichshof, mühl ottos sekte; Edition Roesner, Wien 2004, 210 S. brosch., ISBN 3-902300-11-6, € 25,30
Neue Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin (NGBK): legal/ illegal – Wenn Kunst Gesetze bricht / Art beyond law; Schmetterling Verlag, Berlin 2004, 255 S. brosch., ISBN 3-89657-468-x, € 17
Peter Noever (Hrsg.): Evi Untitled; MAK, Wien 2004, 48 S. brosch., ISBN 3-900688-61-3, € 10
Patricia Drück/ Inka Schube: Soziale Kreaturen. Wie Körper Kunst wird / Social Creatures. How Body becomes Art; Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2004, 173 S. geb., ISBN 3-7757-1432-4, € 20
Claudia Pantellini / Peter Stohler (Hrsg.): Body Extensions – art, photography, film, comic, fashion; Arnoldsche Art Publishers, Stuttgart 2004, 192 S. geb. ISBN 3-89790-204-4, € 24,80
Mathias Hirsch (Hrsg.): Der eigene Körper als Objekt; Psychosozial-Verlag, Gießen 2000, 310 S. brosch., ISBN 3-932133-33-1, € 34,90
Ders. (Hrsg.): Der eigene Körper als Symbol; Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, 281 S. brosch.,, ISBN3-89806-138-8, € 36
Teresa Margolles: Muerte sin fin; Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2004, 275 S., geb., ISBN 3-7757-1473-1, € 24] fm