WIENER AKTIONISMUS

Anarchismus, Terrorismus, Avantgarde

Franziska Meifert
(publ. in: testcard # 15/2006)

 

Aus der Traum. Der Anschlag auf das World Trade Center am 11.9.2001 riss die westliche Welt brutal aus ihren Allmachtsphantasien. Er traf sie an ihrer Achillesferse, der Macht des Bildes über die Menschen. Wie ein Elektroschock wirkten die einstürzenden Türme auf die TV-Betrachter, hypnotisierten sie, brannten ihnen die Verletzlichkeit und den Fall ihrer Kultur ins Gehirn. Und lösten wieder mal eine Diskussion aus, in deren Verlauf moderne Kunst auf einer Ebene mit Terrorismus verglichen wurde, und zwar seltsamerweise nicht von konservativen Kreisen, sondern von Künstlern und Kunstvermittlern selbst. Karlheinz Stockhausen bezeichnete in einem Interview den Anschlag auf die Zwillingstürme als „größtmögliches Kunstwerk“, weil es so absichtsvoll künstlich aus der Mitte unserer Gesellschaft erzeugt worden sei, quasi eine ausgeklügelte mediengerechte, hollywood-kompatible Performance. Jean Clair, Direktor des Musée Picasso, bezeichnete bestimmte Künstler als Wegbereiter des Terrorismus, immerhin hätten schon die Surrealisten Zerstörung zum Programm erklärt. Und „Iconoclash“, eine Ausstellung im ZKM, rückte die avantgardistischen Bilderstürmer in die Nähe der afghanischen Buddha-Statuen-Zerstörer. Vergleiche, die ebenso auf Hilflosigkeit wie auf Effekthascherei der Kunstszene schließen lassen. Ginge es allein nach dem Effekt, nach möglichst spektakulärer Erscheinung des Schreckens, nach dem Ausmaß des Schocks, den er hinterlässt, dann wären Hiroshima und Nagasaki gigantische Kunstaktionen, der Krieg ein Gesamtkunstwerk und der Soldat kein Mörder, sondern ein Künstler. Ist das die Zukunftsperspektive, Kunst als Terror, Terror als Kunst?

Pinsel und Dolch

Selbstverständlich gibt es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine starke Querverbindung zwischen kommunistischen und anarchistischen Ideologien einerseits und der fortschrittlichen Kunst- und Literaturszene andererseits. Allerorten in Europa gescheiterte Revolutionen, erstickte Reformen, Restauration alter Machtverhältnisse, gleichzeitig wachsende Industrialisierung – die europäischen Gesellschaften krankten an ihrem anachronistischen politischen Korsett, und wer sonst – neben den politischen Querdenkern, Philosophen, Ökonomen à Marx, Engels & Co. – sollte diese Krankheit diagnostizieren, wenn nicht die Kunst? In seiner ausführlichen Studie Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840-1920 untersucht Dieter Scholz drei Momente, an deren Beispiel sich die Beziehungen zwischen Anarchismus und Kunst besonders materialreich dokumentieren lassen: erstens den Maler Gustave Courbet und seine enge Freundschaft mit Pierre-Joseph Proudhon, dessen Schrift „Was ist das Eigentum?“ den Beginn der anarchistischen Philosophie markiert, zweitens die Verflechtungen zwischen Neo-Impressionisten und anarchistischen Gruppen in Paris, die 1894 sogar zur Verhaftung des Malers Maximilien Luce und des Kunstkritikers Félix Fénéon führten, und drittens die Beschäftigung der Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader mit dem Individualanarchismus. Inzwischen war auch Paul Lafargues „Das Recht auf Faulheit“ erschienen, an das sich Anarchos wie Hausmann anlehnten, wenn er auf seinem berühmten Flugblatt „Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland?“ 1919 proklamierte: „Der Dadaismus fordert 1. die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus, 2. die Einführung der progressiven Arbeitslosigkeit durch umfassende Mechanisierung jeder Tätigkeit. Nur durch die Arbeitslosigkeit gewinnt der Einzelne die Möglichkeit, über die Wahrheit des Lebens sich zu vergewissern und endlich an das Erleben sich zu gewöhnen, 3. die sofortige Expropriation des Besitzes.“
Anarchisten wie Avantgardekünstler stehen beide auf verzweifeltem Kriegsfuß mit der herrschenden Ordnung und ihren Werten, beide fordern die unbeschränkte Freiheit des Individuums, beide entwickeln neben der radikalen Kritik bestehender Verhältnisse auch äußerst idealistische, geradezu blauäugige Visionen und Alternativen des Zusammenlebens; auf Seiten der Kunst heißt das speziell: Negation traditioneller Medien und Ausdrucksformen, Verbindung und Ineinssetzung von Kunst und Leben, letztlich die Auflösung der „Kunst“ als Institution.
Tatsächlich aber stehen sich die Künste und die anarchistische Linke keinesfalls schwesterlich gegenüber, vielmehr behauptet noch die abgefahrenste Politvision als vorgeblicher Repräsentant der Wirklichkeit das Primat über die Vertreter des Unwirklichen. In dem Maß, in dem sich der Terrorismus des 20. Jahrhunderts gegenüber dem Anarchismus des 19. Jahrhunderts radikalisiert und brutalisiert, werden Künstler als „Gartenzwerge der Revolution“ betrachtet. Kunst und Literatur gehen so nicht einfach im Leben auf, sie werden verschluckt, instrumentalisiert, verstummen. Gerrit Jan Berendse hat diesen aggressiven Prozess am Beispiel der Beziehung zwischen Ästhetik und Terrorismus in den 70er Jahren untersucht: Schreiben im Terrordrom – Gewaltcodierung, kulturelle Erinnerung und das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und RAF-Terrorismus.Die Sympathiebezeigungen, Solidaritätsaktionen, das Engagement zahlreicher Schriftsteller, Philosophen, Journalisten etc. wurden zwar von der RAF als Publicity benutzt, gleichzeitig jedoch mit kalter Verachtung gestraft: Böll galt als „korrupt“, Grass als „abgefuckt“, Bernward Vesper als „Loser“, Sartre als „alter Narr“, ihre Literatur als bloßes „Revolutionsgewäsch“, es gelte nur die „Philosophie der Tat“ (Meinhof). Mit dem Diktum der terroristischen Tat aber verliert das Wort an Bedeutung und Einfluss, verstummt die Literatur. „Was die Terroristen gewinnen, verlieren die Schriftsteller“ (Don DeLillo). Berendse geht dem Oszillieren zwischen Sprachverlust und Regeneration nach, den Diskursen von Ästhetik und Gewalt, analysiert, wie Gewalt in den Textkörper eindringt und sprachlich verarbeitet wird, oder aber die Sprache verschwindet, wenn die Nähe zwischen Literatur und Terrorismus, Fiktion und Realität zu groß wird.
Damit würde auch jener Avantgarde-Begriff obsolet, der noch 1974 Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ zugrunde liegt, nämlich Avantgarde als Bewegung, die über das Ästhetische hinaus auf radikale gesellschaftliche Veränderung abzielt, durch Infragestellung der künstlerischen Autonomie, kurzum, die Kunst+Leben-Chose. Diese Frage ist Dreh- und Angelpunkt der Avantgarde und daran scheiterte sie auch, wie Bürger später in „Alternde Moderne“ feststellt, weil es eben nicht gelungen sei, die Kunst ins Leben zu integrieren. Zum Glück, denn wenn das Leben sein Korrektiv verschluckt, dann ist das, als würde die Gewaltenteilung von Exekutive und Jurisdiktion aufgehoben. Ein gefährlicher Avantgarde-Begriff, der Kunst zum Werkzeug eines wie auch immer besseren Lebens degradiert, wo es doch eigentlich um die Infragestellung jeder Art zu leben, zu denken und zu fühlen gehen müsste ...
Luca di Blasi, der sich in seinem Essay „Die besten Videos drehte Al-Qaida“ (DIE ZEIT, 14.8.2003) mit der scheinbaren Wahlverwandtschaft von Kunst und Terror beschäftigte, bemerkte: „Immerhin fällt es auf, dass die Avantgarde genau in dem Moment entsteht, in dem der anarchistische Terror, der das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts erschütterte, zum Erliegen kommt. Das moderne Kunstsystem wäre demnach ein Raum, in dem ein anarchistisches Souveränitätsbedürfnis gemeinverträglich ausgelebt werden kann. Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen: Wo ein solcher moderner Kunstraum, wie etwa in den arabischen Ländern, nicht vorhanden ist, ist die Konsequenz Terrorismus. ‚Der Terrorist ist ein moderner Künstler unter der Bedingung, dass das moderne Kunstsystem fehlt.’ (Boris Groys)“ Was nicht identisch ist mit dem Gedanken, der Terrorist sei ein verhinderter Künstler, sondern strukturell gedacht: wo die Gesellschaft einen virtuellen Raum zulässt oder sogar fördert, in dem ihre „Erzählung“ in vielen, auch gegensätzlichen Versionen dargestellt werden kann, in dem sie – virtuell – analysiert, demontiert, zerstört werden kann, lässt sie bereits eine individuelle Freiheit zu, die den Anarchismus seiner Grundlage enthebt und den Fundamentalismus des Terrors in seiner eindimensionalen Weltsicht verhindert. Die gesellschaftspolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen werden auf der Bühne der Kunst ausgefochten und eben nicht durch reale Gewalt. Kunst bleibt ein „als-ob“-Ereignis, gefangen und auch geschützt (z.B. juristisch durch den „Kunstvorbehalt“) in der Blase der Fiktion, auch wenn sie sich noch so sehr in den realen Raum vorpülpt.

Das permanente Happening

Was nun irritierte und diese angebliche Wahlverwandtschaft zu bestätigen schien, war, dass die Terroristen begannen, ihrerseits auf die Welt der Medien zuzugreifen, und, wie die Künstler auch, moderne Medien zu ihrer Selbstdarstellung zu nutzen, was naheliegend ist. Warum sollten sie noch handabgenudelte Flugblätter verteilen, wenn es Videokameras und Internet gibt? So wie die Avantgarde-Kunst also den Durchbruch vom Simulacrum in die gesellschaftliche Wirklichkeit suchte, so dringt die Realität terroristischer Aktionen ins mediale Reich der Simulacra ein, der Bilder von der Wirklichkeit. Sie liefern den schmutzigen snuff movie zu all den Katastrophenszenarios, die Künstler, Schriftsteller und Filmer schon dauernd als Fantasien produzieren – und wirken gleichzeitig selbst wie Fiktion. Die Grenzen zwischen dem realen und dem virtuellen Raum werden verwischt. Das Ausmaß des Schreckens freilich und die märtyrerhafte Wegwerfmentalität dem eigenen Leben gegenüber, mit der die Terroristen agieren, übersteigen die „Kapazitäten“ der Kunst bei weitem. Der Terrorist, so Luca di Blasi, sei daher weniger ein verhinderter Künstler als ein Kunstverhinderer: „er verhindert avantgardistische Kunst. Im Ausnahmefall, im Aufblitzen echter Gewalt oder Souveränität, erscheinen avantgardistische Gewaltsimulationen läppisch und überflüssig. Mit dem Einbruch des Megaterrorismus ist die Zeit einer in terroristische Fantasien abgeglittenen Neo-Avantgarde abgelaufen.“
So wie Kunst und ihre Rezeption heute ist der Terror von Al Qaida und anderen ohne die massenmediale Aufarbeitung und Verbreitung durch Fernsehen und Internet nicht denkbar, bliebe regional begrenzt und international wirkungslos. Im „globalen Dorf“ hingegen betrifft jeden alles. Im bläulich-zuckenden Lichtschimmer der Mattscheibe gibt es keinen Fluchtpunkt mehr, keine Distanz, keine Perspektive von außen, wie Marshall McLuhan vor fast 40 Jahren in seinem Kultbuch „Das Medium ist Massage“ schon darlegte: Die Welt der elektronischen Informationsmedien beteiligt uns alle und zwar alle zugleich, wir leben alle „in einem gleichzeitigen Happening“. Was wäre der 11.9. ohne seine Bilder?
Dieses permanente Happening erfordert und produziert geradezu terroristische Aktionen, nicht anders als sensationslüsterne Nachrichten, Ekelwettbewerbe, heiße Stühle. Gewalt ist die Seifenoper der Jetztzeit. Die Massage durch die Medien braucht immer stärkeres Zupacken, also intensivere Reize, härtere Schocks. Die Kunst, von der gerne behauptet wird, sie hätte uns im 20. Jahrhundert mit Provokation und Destruktion bis zum Abwinken versorgt, war tatsächlich nichts anderes als ein Bürgerschreck, hat sich den Schock zueigen gemacht, um aufzurütteln, Aufmerksamkeit zu erheischen in dieser satten Moderne, einen Hunger ganz anderer Art zu formulieren: Hunger nach Leben und direkter körperlicher Erfahrung, Lust und Schmerz, Berührung und Ekel, Nähe und Distanz, Liebe und Hass, alles, nur nicht Gleichgültigkeit und Apathie. Ihre Schocks waren stellvertretend, ihre „Gewalt“ mehr oder minder symbolisch und meist gegen den Künstler selbst gerichtet. Nicht zuletzt waren sie auch ein Fluchtversuch vor diesem Spiegelkabinett medialer Bilder, das an die Stelle der Wirklichkeit und des einzigen Spiegelbildes vom Ich getreten war.

Verlust von Selbst, Bild, Selbstbild

Vor dem Hintergrund, dass in den letzten hundert Jahren die Idee von einem körperlichen und geistigen Ich als einer festen, stabilen Einheit durch Psychoanalyse und Medizin, Philosophie, Soziologie und Anthropologie gründlich untergraben wurde, lag es nahe, dass auch die Künstler sich mit dem Begriff des Bewussten und Unbewussten, mit kulturellen Identitäten, mit Sexualität und Tod befassten. Und es ist nur symptomatisch, dass der Zerfall des Ichs sich in der Auflösung des Selbstporträts manifestiert. In Selbstbild ohne Selbst – Dekonstruktionen eines Genres in der zeitgenössischen Kunst analysiert Martina Weinhart diesen Prozess, der im 20 Jahrhundert erst neue persönliche, individuelle Bildformeln einsetzt, um sich schließlich, nach einem letzten Aufflackern in Form des „Anti-Porträts“, zugunsten anderer Zeichen und malerischer Gesten aufzulösen. Anders gesagt: Je stärker der Künstler durch den Spiegel des Porträts nach innen starrt, sein seelisches Potential sichtet, desto unähnlicher wird er sich, bis er endlich ganz verschwindet. „Der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, endet Foucaults „Ordnung der Dinge“. Wenn überhaupt, findet er jetzt anders Eingang in sein Werk, über Body Art und Performance, also über Körper und Bewegung im Raum, durch Fotografie oder Film festgehalten. Erst in der Postmoderne der 80er entwickeln sich gegenläufige Strömungen: entweder als Rekonstruktion der figurativen Malerei (Transavanguardia, Junge Wilde) oder als Dekonstruktion, die in den Diskurs um Fragen der Repräsentation, Originalität, Autorschaft und Aneignung führt (Appropriaton Art, inszenierte Fotografie, von Kippenberger bis Cindy Sherman). Einheit und Autonomie des Subjekts sind unwiderruflich beendet, an seine Stelle sind „Ich-Vielheiten“ und „Fractale“ (Baudrillard) getreten, nomadisches Denken ohne Subjekt (Deleuze). Foucault und Lacan zeigen, „dass das Subjekt in Wirklichkeit ein kompliziertes, zerbrechliches Ding ist, über das sich so schwer sprechen lässt, und ohne das doch gleichwohl Sprechen nicht möglich ist.“ Martina Weinhart stellt diese philosophischen Denk-Hintergründe zur Veränderung des Selbstbildes hinreichend dar, geht auch insbesondere auf die Frage der Medien, speziell der Fotografie, ein, hält sich jedoch bei den Künstlern an die offiziellen musealen Marktgrößen, keine Zeichnung, kein Comic, kein Underground, und statt der viel früheren „Selbstbemalungs“- und „Selbstverstümmelungs“-Aktionsfotos des Wiener Aktionisten Günter Brus, die in eine gänzlich neue Richtung von Porträt und inszenierter Fotografie verweisen, fast ein Vierteljahrhundert vor Cindy Sherman, bringt sie die „Face Farces“ von Arnulf Rainer, der Jahre später im Kielwasser der Aktionisten die „Body Art“ ausgerufen hat. Hier gehen wichtige historische Zusammenhänge verloren.
Der Verlust des einheitlichen Selbstbildes und damit einhergehend auch des Bildes (denn letztlich ist jedes Bild ein Spiegel des Subjekts) in Verbindung mit der immer größeren Bedeutung von Medien führte zu zwei verschiedenen Umgangsweisen: Ein Teil der Künstler, Philosophen, Kulturwissenschaftler sprang auf den Medienzug auf, betrachtete die Medien als Prothesen, also als Erweiterung der menschlichen Anlagen, ob psychisch oder physisch, und, mehr noch, erhoffte sich von der Medienentwicklung eine transhumanistische Befreiung aus dem Körpergefängnis. Die andere Partie versuchte hingegen, den Verlust des Subjekts und die Künstlichkeit einer medial überformten Welt nicht durch weitere Bilder, sondern durch unmittelbare Körperlichkeit zu überwinden. Wie in Platons Höhlengleichnis wollten sie die Welt der Bilder, der Schatten an der Wand, der Simulacra verlassen und ins grelle Licht der direkten Erfahrung, der Präsenz, der essentiellen Konfrontation vorstoßen: „Wir sollten zum Körper zurückkehren, dem Ort, an dem sämtliche Risse in der westlichen Kultur deutlich zu Tage treten“ (Carolee Schneemann). Dass sie dabei trotzdem die Medien Fotografie und Film zur Dokumentation benötigten und artifiziell einsetzten, wurde ihnen oft genug als Paradoxon vorgehalten, ändert aber nichts an der ursprünglichen Ereignishaftigkeit. Über die Körpersprache wollten sie wieder zur Sprache finden, damit vielleicht zu einer eigendefinierten, individuellen, selbstbestimmten Subjekthaftigkeit.

Kunst und Körper

Der Körper als flexibles Zeichensystem, seine Transformationen und sich verändernden Identitäten, seine Schmerzgrenzen und Verletzungen, die sozialen und geschlechtsspezifischen Einschreibungen, die Tabus, die ihn eingrenzen, die Rituale und Trancezustände, die ihn zu entgrenzen vermögen – mit welcher Vielfalt und Intensität die Körperkunst diese Themen auslotete und wie gerade auch die Frauen am eigenen Leib Strategien von Unterdrückung und Befreiung analysierten und zelebrierten, zeigt der Bildband Kunst und Körper, herausgegeben von Tracey Warr, mit einer Fülle von beeindruckenden Bilddokumenten. Nicht dass dieses Sujet so neu wäre, es gab in der Vergangenheit etliche Publikationen zum Thema, aber auch nachfolgende Generationen wollen sehen und verstehen, warum Künstler sich mit Lebensmitteln einreiben, in Tierblut und Gedärmen wühlen oder mit der Rasierklinge sich selbst Schnitte zufügen. Die Körperkunst ist keine abgeschlossene „Phase“, sie wird von jungen Künstlern immer wieder aktualisiert und oft auch mangels Wissen „neu erfunden“, sie ist in die Musik– und Popkultur eingegangen, hat Theater, Tanz, Film und Videoclips revolutioniert. Die Einteilung in Themenkomplexe wie „Malende Körper“, „Gestikulierende Körper“, „ritualistische und transgressive Körper“, „Körpergrenzen“ etc. ist jedoch problematisch, weil Künstler, die viele Facetten aufweisen oder deren Entwicklung mehrere Themen durchläuft, in eine einzige Schublade gepresst werden. Aufschlussreicher wäre da eine chronologische Genese und, damit verbunden, wer wann von wem und welchen Aktionen über welches Medium erfahren hat. Beispielsweise, wann die japanische Gutai-Gruppe mit ihren sehr frühen Aktionen der 50er Jahre in Europa bekannt wurde, oder umgekehrt, ob man in Japan Jackson Pollock kannte etc. Also eine Art Stammbaum der Aktionskunst. Das Vorwort ist lesenswert, die lange Einführung von Amelia Jones teils interessant, dann wieder unzureichend, eine letztlich unstrukturierte Aneinanderreihung von Künstlern und Performancebeschreibungen, mit Schwerpunkt auf feministischer Körperkunst. Diese etwas einseitige Sicht verstellt ihren Blick auch auf den Wiener Aktionismus, der nun mal in Europa die frühesten und radikalsten Körperaktionen aufweist (was hingegen im Vorwort der Herausgeberin Tracey Warr sehr wohl deutlich wird). Entsprechend hanebüchen fallen die Künstlerbiografien im Anhang aus, die zumindest bezüglich Brus, Mühl, Nitsch, Schwarzkogler von keiner Sachkenntnis getrübt sind. Auf den ersten Blick faszinierend, ist dieser Band ob seiner analytischen Schwäche und mangelnden Objektivität im Text immerhin noch gut als Coffeetable-book. Darauf verweist auch das Foto auf dem Schutzumschlag, ein ästhetisch unverfänglicher Rückenakt von Tracey Emin, der auch für „Erdgas macht dein Heim gemütlich“ werben könnte.

Aktionismus, Sexpol

„Es gibt keinen Kontrast zwischen Gesellschaft und Körper.“ (Marcel Mauss) Die Gesetze einer Gesellschaft, ihre Hierarchien, Unterdrückungsstrategien, ihre Verbote und Gebote, sind in den Körper eingeschrieben. Die Idee, dass eine Befreiung der Sexualität also auch die Gesellschaft befreien und verändern würde, stand im Zentrum der 60er und 70er Jahre und hat in der Tat einen gewaltigen Liberalisierungsschub bewirkt. Während Pop Art, Minimalismus und Konzeptualismus in ihren gemäßigten verfeinerten Formen zu einem kulturellen Aushängeschild wurden und in die etablierte Kunstszene Europas und Amerikas Eingang fanden, setzten die oft provokativen Happenings, Aktionen und Undergroundfilme der 60er Jahre eine soziale Revolution in Gang, wobei sie die sexuelle Befreiungsbewegung, Formen politischen Protest, die Emanzipation der Frauen wie der Homosexuellen antizipierten und vorbereiteten. In ihrer hervorragenden, sehr fundierten und gut lesbaren Dissertation Fluxus, Flirt, Feminismus? Carolee Schneemanns Körperkunst und die Avantgarde geht die Kulturhistorikerin Anette Kubitza detailliert ein auf die Entwicklung von Happening und Performance aus action painting und Assemblage und diese wiederum aus der Krise der amerikanischen Malerei. Die performative Kunstszene des New Yorker Greenwich Village brach nicht nur mit den überkommenen Moralvorstellungen, sondern ging vielfach über das Interesse an sexueller Befreiung hinaus, stellte die Existenz einer „natürlichen“ Sexu2alität und geschlechtlichen Identität als solche in Frage. Ihre Körperdarstellungen waren explizit, aber emotional oft distanziert und „aus der kalten Hose“. Carolee Schneemann hingegen war zwar in der New Yorker Avantgarde zu Hause, stieß jedoch mit ihren sehr emotionalen, „schmutzigen“, „erdigen“ Aktionen auf Unverständnis und Widerstand, auch und gerade bei ihren Kollegen. Angeregt von Wilhelm Reich entwickelte sie eine sexuelle Ästhetik, „die ihrer engen Verknüpfung von künstlerischer Kreativität, orgasmischer Energie und komplexer Sinnlichkeit entsprach. Damit ist es der Künstlerin nicht nur gelungen, patriarchalische Werte zu untergraben und eine feministische Kunst vorzubereiten. Darüber hinaus (...) befindet sich Schneemanns Ästhetik auch jenseits eng definierter Werte, wie sie z.T. von der feministischen und der homosexuellen Bewegung proklamiert worden sind.“ Kurzum, sie hat sich überall in die Nesseln gesetzt. Durch die genaue Analyse ihrer Aktionen „Eye Body“, „Meat Joy“ und dem Paarfilm „Fuses“ zeigt Anette Kubitza auf, wo diese Arbeiten noch in gesellschaftlichen Konventionen verfangen sind und wo sie vorherrschende Denkmuster über Körper und Sexualität von Frauen aufbrechen. Die Darstellung sexueller Leidenschaft und weiblicher Nacktheit ist nicht automatisch ein Zugeständnis an den männlichen Blick, bestätigt nicht per se die Rolle der Frau als Lustobjekt, wie ihr von dogmatischen Feministinnen immer wieder vorgeworfen wurde, sondern ist sehr wohl in der Lage, gängige Strukturen zu dekonstruieren, ohne dabei Lust und Sinnlichkeit aufzugeben oder zu denunzieren.
Darin sieht Schneemann auch den Hauptunterschied ihrer Arbeiten zu jenen der Wiener Aktionisten, denen sie sich sehr verwandt fühlt. So schrieb sie in „On the Body as Material“, wobei sie sich hauptsächlich auf Mühl bezog: „Sie haben nie mit einem ekstatischen, erotischen Körper gearbeitet, sondern haben Arbeiten gemacht, die unbewusst auf die KZ Greuel reagierten, indem sie versucht haben, ein Äquivalent für so viel verschandeltes Fleisch in den Qualen ihrer Performer und Performerinnen zu finden. Es war wie eine Teufelsaustreibung.“ Auch wenn dieser Bezug auf Krieg und KZ keineswegs unbewusst, sondern bewusst eingesetzt wurde, und der quälerische Aspekt auch eine postkatholische Färbung hat, ist der Unterschied zwischen Mühl und Schneemann evident: Die Körper der Aktionsteilnehmer wurden bei Schneemann nicht traktiert, überschüttet, gefesselt, verpackt, selbst als Material behandelt, sondern hatten die Möglichkeit ihrerseits frei zu agieren, sinnlich-orgiastische Erfahrungen mit Nahrungsmitteln, Gerüchen, Farben und ihren Körpern zu machen, wie in „Meat Joy“ 1963. Es ging ihr nicht um das Brechen von Tabus und die Erzeugung von Ekel und Schock, sondern vorrangig darum, eine Akzeptanz gegenüber dem Körper und seinen Gerüchen und Ausscheidungen zu erzeugen. Und sie tat dies, ohne andere zu degradieren oder zu missbrauchen. Mühls Materialaktionen hingegen zeigen mehr den Körper der Vergangenheit als den der Zukunft, seine Begrenzungen, Torturen, Verstümmelungen und Gewaltanwendungen jeglicher Art. In den späteren Aktionen sind die Frauen zu Objekten seiner Regie und seiner Phantasie erniedrigt, sie werden geschlagen, beschimpft, Gegenstände werden in ihre Vaginen hineingestopft etc. Nicht befreite Sinnlichkeit, sexuelle Ekstase, also eine Utopie des Eros sind das Thema, sondern seine negative Kehrseite. Auch das anschließende Experiment, das Programm Kunst & Leben real umzusetzen in Form einer sexuell befreiten Großkommune, musste an diesem negativen, sadistischen, antidemokratischen Zwangscharakter der Sexualität, dem auch Kinder und Heranwachsende unterworfen wurden, scheitern. Die Utopie erlitt einen kläglichen Backlash in den Feudalismus. Nachdem in den letzten Jahren mehrere Publikationen und Kataloge zu und über Otto Mühl erschienen sind und seine Kunst ebenso wie der Aufstieg und Niedergang der Kommune ausgiebig diskutiert wurden, bleibt nicht mehr viel Neues festzustellen. Als der Sammler Harald Falckenberg die Mühl-Retrospektive vom Wiener MAK mit leichter Akzentverschiebung im vergangenen Sommer nach Hamburg holte, hat er noch ein weiteres Buch hinzugefügt: Otto Mühl. Retrospektive. Jenseits von Zucht und Ordnung, mit 11 Textbeiträgen in Deutsch und Englisch, allesamt bemüht, aber für Kenner nicht sehr ergiebig. Die Texte von Günter Schulte über die Baubo und von Peter Sloterdijk „Polemik gegen Es oder: Den Teufel denken“ wurden aus anderen Zusammenhängen und Büchern übernommen und haben keinerlei direkten Bezug auf Mühl, und die weiteren Beiträge (Ausnahmen sind die von Noemi Smolik und Christian Höller) bieten keine wirklich relevanten, unbekannten Aspekte, eher nebensächliche Reminiszenzen, Anekdoten, Sympathiebekundungen, skurrile Gedankenspielereien.
Die Avantgarde-Träume sind ausgeträumt. Ein Avantgarde-Begriff, der immer das jeweils Neueste propagiert, ist in seinem Beschleunigungszwang kein Gegenmodell zum Wertesystem des globalen Kapitalismus, sondern vielmehr Teil desselben. Der Kunsthistoriker Beat Wyss schlägt sogar alternativ eine „Arrière-Garde“ vor, Kunst als „Entschleunigungsvehikel“. Und Avantgarde als Kunst & Leben-Experiment führte stets zu Sektiererei und Zwangsmodellen. Unfreiheit und Terror können nicht legimitiert werden durch das Versprechen auf ein besseres Leben. Kunst ist nun mal keine Besserungsanstalt für das Leben, sondern bestenfalls ein „Störsender“, ein Denkfaktor, ein Teststreifen, an dem sich die Geister scheiden. Kunst von Bedeutung steht immer jenseits von Zeitgeist, gleichgültig, misstrauisch, unverträglich und vollständig individualistisch. Stets im Schatten der Moden, selten zu ihrer Zeit als „Avantgarde“ erkannt. Sie liefert kein Programm und keine Gebrauchsanweisung zur Veränderung der Gesellschaft. Im besten Fall ist Kunst ein Rettungsboot für das geistige Überleben, bestimmt aber kein Kreuzfahrtschiff in irgendeine strahlende Zukunft. Aus der Traum.

 

[Dieter Scholz: Pinsel und Dolch – Anarchistische Ideen in Kunst und Kunstgeschichte 1840-1920; Reimer Verlag, Berlin 1999, 477 S. brosch., ISBN 3-496-01199-8, € 39,90
Gerrit-Jan Berendse: Schreiben im Terrordrom; edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2005, 272 S., brosch., ISBN 3-883777-789-7, € 22
Martina Weinhart: Selbstbild ohne Selbst – Dekonstruktionen eines Genres in der zeitgenössischen Kunst; Reimer Verlag, Berlin 2004, 283 S., brosch., ISBN 3-496-01279-X, € 49
Tracey Warr (Hg.): Kunst und Körper; Phaidon Verlag, Berlin 2005, 204 S. 265. Farb- und S/W-Abb., geb., ISBN 0-7148-9427-3, € 49,95
Anette Kubitza: Fluxus, Flirt, Feminismus? Carolee Schneemanns Körperkunst und die Avantgarde; Reimer Verlag, Berlin 2002, 274 S., brosch., ISBN 3-496-01264-1, € 49
Harald Falckenberg (Hg.): Otto Mühl. Retrospektive – Jenseits von Zucht und Ordnung; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst; Frankfurt a.M. 2005, 320 S. brosch., ISBN 3-86588-141-6, € 25] fm