WIENER AKTIONISMUS

No body is perfect

Franziska Meifert
(publ. in: testcard # 16/2007)

 

OHANN S. ACH / ARND POLLMANN (Hg.)
No body is perfect
MICHA BRENDEL / ELSE GABRIEL u.a.
Ordnung durch Störung
KUNSTHALLE WIEN (Hg.)
Lee Lozano – „Seek the extremes ...“
KUNSTRAUM DORNBIRN (Hg.)
Tony Matelli – Fuck’d and The Oracle

Seit der homo sapiens sapiens begann, auf seinen zwei Beinen über die Steppe zu stolpern und sich mit seinem Kopf über seine äffischen Verwandten zu erheben, hat er – vielleicht auch als Zeichen seiner Besonderheit gegenüber den anderen Primaten – angefangen, seinen Körper zu manipulieren, also zu bemalen, zu tätowieren, mit Schmucknarben zu verzieren, mit Knochen und Tierbein zu durchbohren, zu verstümmeln und zu verschönern auf jede erdenkliche Weise. Nur reicht heute die Spannbreite des Werkzeugs von der Flaschenscherbe zum Ritzen bis zu ausgefeilteren Technologien wie Schönheitschirurgie oder „body shaping“ durch aufwendige Diät- und Fitnesspläne. Der Reader no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse lotet in hervorragenden Beiträgen die Grenzen aus zwischen kreativer Selbstgestaltung und autoaggressiver Selbstverstümmelung, autonomer Selbstverwirklichung und neurotischer Anpassung, Befreiung von den Grenzen der Natur und Hybris. Dabei wird unterschieden zwischen drei Formen von „Enhancement“, zu deutsch Verbesserung: genetisches Enhancement, Neuro-Enhancement, also der Einsatz von Psychodrogen, und schließlich das klassische Body-Enhancement. Aus philosophischer, medizinethischer, psychologischer, ästhetischer und kulturwissenschaftlicher Sicht werden folgende Fragen diskutiert: 1) Welche wachsende existentielle Funktion kommt manipulativen Körperselbsttechniken (insbes. "wunscherfüllende Medizin“) für das individuelle Leben zu? 2) Wie lässt sich diese Entwicklung kulturhistorisch einordnen? Handelt es sich um die Kontinuität anthropologischer Phänomene oder um eine neue Stufe von „Selbstverbesserung“? 3) Wie kann man die zunehmenden Körpermanipulationen zeitdiagnostisch bewerten? Ist das die Dialektik der Selbstvervollkommnung, dass das Streben nach immer größerer Selbstperfektion notwendig in Selbstzerstörung umschlägt? 4) Welche politischen Implikationen ergeben sich aus dieser Individualisierung des utopischen Denkens, sozusagen vom Sonnenstaat zum Astralkörper? 5) Lassen sich die einzelnen Körperselbst-techniken einer ethisch-moralischen Bewertung unterziehen und unter welchen Parametern? Was darf man seinem Körper resp. Gehirn antun? Wann, wem und mit welcher Begründung muß Enhancement verboten werden? Gibt es ein Recht auf freiwillige Selbstverstümmelung oder existieren Grenzen, jenseits derer solche Praxen als krankhaft „behandelt“ werden müssen, so wie Suizidversuche in die Psychiatrie führen. Und was bedeutet das für die Kunst? Dass vor allem bei Kindern und Jugendlichen (und dabei vorrangig bei Mädchen) die Zwanghaftigkeit von selbstzerstörerischen Akten so stark zugenommen hat, verweist nicht nur auf veränderte Körperselbstbilder, sondern darüber hinaus auf kulturelle und psychosoziale Verwerfungen. „Wollte man so weit gehen“, schreibt Benigna Gerisch, „den basalen Zustand der ‚postmodernen Persönlichkeit’ als depersonalisiert – fremd sich selbst gegenüber und fremd im eigenen Körper – zu beschreiben, so nimmt es nicht wunder, dass Körpermanipulationen die Mittel der Wahl sind, um im Dienste der Selbsterhaltung dem unerträglichen Fragmentierungserleben entgegenzuwirken und es zugleich sichtbar zu machen.“ Selbstzerstörung im Dienst der Selbsterhaltung oder „Selbstfürsorge“.
„Ich habe Waffen entwickelt für den täglichen Nahkampf. Z.B. Auto-Perforation, die Selbstlöcherung, handhabbar zum Unschädlichmachen von Gefühlsüberschuss, der entsteht, wenn sich einer gut- oder bösartig akuten Gemütsbewegung der Gegenstand entzieht bzw. ihr entzogen wird“, so die Performance-Künstlerin Else Gabriel, die zusammen mit Micha Brendel, Rainer Görss und Via Lewandowsky noch zu DDR-Zeiten ihre Genossen mit Körperaktionen nach dem Vorbild der Wiener Aktionisten und anderer Performance-Künstler aus den 60er und 70er Jahren schockierten: „Auto-Perforations-Artistik ist die Fortsetzung dieses Regulationsprozesses mit anderen Mitteln – gebohrt wird an den dicken Brettern, die für die Köpfe dahinter die Welt bedeuten.“ Ordnung durch Störung – Auto-Perforations-Artistik heißt der Katalog der Ausstellung in Dresden 2006, wo sie Mitte der 80er an der Hochschule der Bildenden Künste ausgebildet wurden und ihre ersten Aktionen machten. Anfang der 90er nahm auch der Schriftsteller Durs Grünbein an Aktionen teil. Eine DVD mit Super-8-Filmen und anderem Filmmaterial aus den Jahren 1986-91 liegt dem Katalog bei. Der „Diktaturkörper“, den sie mit Blut, Tierabfällen, Nahrungsmitteln, absurden Kostümen in verstörenden Aktionen präsentierten, war für sie eine elementare Auseinandersetzung mit dem maroden DDR-System: „Wie zeigt sich das am Körper, so eine Diktatur?“ Die Anregung durch die Wiener ist überdeutlich: „Der Staatskörper Günter Brus betrachtet seinen Körper“ oder „Kunst und Revolution“ an der Wiener Universität 1968. Schade, dass sich die Dresdner im Katalog dann aber feige abgrenzen, sie hätten „keinen Erlösungsanspruch wie Nitsch“. Ihre Aktionen leiten sich ja vornehmlich von Brus, Muehl und Schwarzkogler her und nicht von Nitsch. Aggressive Arriere-Garde in Diktaturen in allen Ehren, aber spätestens ab 1989 sind westliche Standards anzulegen, und da waren sind sie schlicht und einfach ein Vierteljahrhundert hinterher. Die immergleiche Verleugnung der „Väter“ in der Kunst langweilt. Dabei werden sie doch selbst schon zu Vätern stilisiert, wie die Ausstellung zu ihrer Hommage zeigt.
„Ich bin nicht böse auf irgend jemanden oder irgend etwas, aber ich habe eine Wut. Ich hatte schon immer eine Wut.“ Lee Lozano (1930-99), radikale Frau und konsequente Künstlerin, geächtet wegen Obszönität, Pornographie, Blasphemie in ihren Zeichnungen, Malereien und Texten sowie wegen ihrer exzessiven Experimente mit Drogen, zog sich Anfang der 70er aus dem Kunstbetrieb zurück, lebte ab wie eine Eremitin in Texas. Sie wehrte sich vehement gegen ihre Einbindung in Marktstrategien, dagegen, in irgendwelche Schubladen eingesperrt zu werden, erst recht nicht die des Feminismus. So realisierte sie eines ihrer Projekte, „to boycott women“, nicht nur als „Kunststück“, sondern hielt es bis an ihr Lebensende durch, weil die Reaktionen der Frauen auf sie und ihr Werk sie wütend machten. Als sie 1999 starb, war sie völlig vergessen; langsam wird sie wiederentdeckt und ihr Nachlass „gehoben“. Zwei Jahre nach einer ersten Ausstellung im New Yorker PS1, stellte die Kunsthalle Wien 2006 Lee Lozano in einer gemeinsamen Ausstellung mit Dorothy Iannone dem europäischen Publikum vor. Der Katalog Lee Lozano - „Seek The Extremes ...“, enthält jede Menge zornig-pornographischer Bilder, deren Provokationswert in den 60er Jahren sich kaum ermessen lässt: „9 out of 10 eat cunt for mental health“, „Let them eat cock“ auf Frauenbildern, „I got fucked in the ass by Con Edison“, Geschlechtsteile in jeder Größe und Farbe, vermischt mit Gesichtern, mit blasphemischen Phantasien: „last station of the cross“ ist eine Vagina und das Kreuz am unteren Ende wird zum schwarzen Dildo. Lozano muß eine unbändig zornige, wilde junge Frau gewesen sei. Ihr Gelächter und ihr Geheul hallen mit hämischer und archaischer Kraft noch immer in unseren Ohren, als würden sie gerade erst ausgestoßen.
Das dröhnende Gelächter von Tony Matelli schallt durch den Kunstraum Dornbirn, aus einer Topfpflanze mit Lautsprecher. Noch in der trostlosen Halle: eine Schimpansenfigur, täuschend echt, mit Krücke und abgehacktem Bein, den Leib durchstoßen mit scharfen Gegenständen, Messern, Scheren, Dolchen, Spaten. Bilder oder Skulpturen von Primaten und Vormenschen in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung, Kompromittierung und Pervertierung kennzeichnen das Werk von Matelli. Manchmal haben sie nur ein T-Shirt mit Markennamen an, Karikaturen zum Amüsement der „größeren Brüder“, manchmal scheinen sie aus ihren vom Menschen vorgegebenen Umgebungen davonzustolpern, aus Käfigen, Dioramen, TV-Serien. Ein andermal erscheinen sie verletzt, gedemütigt, gequält, verstümmelt wie in der Installation Fuck’d, dokumentiert im Katalog Tony Matelli - Fuck’d and The Oracle. Matelli ist nicht einfach ein Tierschützer, die Primaten sind auch und in erster Linie Stellvertreter für den Menschen, ihre Torturen sind von Menschen erdachte, ihre Karikatur ist die des Menschen. In Matellis Augen sind wir verkrüppelte Primaten, die ihren Leib durch nicht „artgerechte“ Räume schleppen und sich am liebsten aus der Evolution stehlen würden.
Wie immer der Körper in der Kunst eingesetzt wird, bleibt zu fragen, was in der Sprache des Körpers kommuniziert wird und mit wem, wenn man davon ausgeht, „dass es sich beim Symptom um verschüttete Worte [handelt], die reden ohne etwas auszusagen, und die sich in eine Sprache ohne Zukunft verwandelt haben. Das dem Körper eingeschriebene Symptom ist das Sediment oder die Ablagerung einer Geschichte, die nicht mehr weiß, wovon sie spricht.“ (Starobinski, Kleine Geschichte des Körpergefühls, 1991)

 

[Johann S. Ach / Arnd Pollmann (Hg.): no body is perfect. 355 S, Pb., transcript Verlag, Bielefeld 2006, ISBN 3-89942-427-1, € 27,80
Micha Brendel / Else Gabriel u.a.: Ordnung durch Störung. Mit DVD. Hg. Hochschule für Bildende Kunst Dresden, 178 S, Pb., Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2006, ISBN 3-938821-47-7, € 28
Lee Lozano – „Seek The Extremes ...“. Hg. Kunsthalle Wien/ Sabine Folie/Gerald Matt, 112 S, geb.,Verlag für moderne Kunst Nürnberg, 2006, ISBN 3-938821-54-X, € 24
Tony Martelli – Fuck’d and The Oracle. Hg. Kunstraum Dornbirn, 40 S. Pb, Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2006, ISBN 3-936711-57-7, € 15]fm